Image von Politikern: Papa wird’s schon urteilen

In der Serie „Politisch motiviert“ ergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 32/2024.

Tim Walz wirkt wie der Typ Mann, der zufrieden „Aahhhh“ sagt, nachdem er einen tiefen Schluck Bier genommen hat. Der den perfekten Samstagnachmittag auf einem Aufsitzrasenmäher verbringt. Und der es irre komisch findet, „Wer hat die denn hier reingelassen?“ quer durchs Restaurant zu rufen, wenn er dort zufällig Bekannte trifft – ein klassischer Dad Joke

Bei Kamala Harris wiederum kann man sich gut vorstellen, dass sie einem reflexartig ein Taschentuch unter die Nase hielte, säße man neben ihr im Bus und müsste niesen. Und ihren Blick, als kürzlich Protestierende bei einer Wahlkampfveranstaltung dazwischenbrüllten, den kennt man nur zu gut. „Er bedeutet: Ab ins Bett, und zwar unabhängig davon, ob du dein Abendbrot schon aufgegessen hast oder nicht“, schrieb der CNN-Kommentator Bakari Sellers.

Gerade einmal drei Tage gibt es das Kandidatenduo Harris/Walz. Aber ein Image haben die beiden längst weg: die fürsorglich-strenge Mutter und der kumpelig-lustige Vater. Vor allem letzterer inspiriert das Internet zu unzähligen Memes, Posts und Texten, in denen ihm viel Liebe für seine väterliche Ausstrahlung entgegenschlägt. Tim Walz ist nicht nur ein American Dad, er ist plötzlich „America’s Dad“.

Das ist kein neues und kein exklusiv amerikanisches Phänomen: Bis heute erinnern sich die Deutschen an Angela Merkel als „Mutti“. Für ihre männlichen Kollegen in den Bundesländern gibt es mit dem „Landesvater“ gleich einen Sammelbegriff. (Von „Landesmüttern“ hörte man bisher vergleichsweise wenig.) Ist es tatsächlich so, dass wir in Politikern manchmal unsere Eltern sehen? Und wenn ja, warum eigentlich? Schließlich sollen uns Regierende ja regieren, nicht erziehen.

Der Psychologin Elisabeth Wehling zufolge findet Politik zu einem beträchtlichen Teil in unserem Kopf statt. Sie spricht von „Framing“ (PDF): Über die Sprache aktiviert unser Gehirn bestimmte Deutungsrahmen, eine Art Wahrnehmungshilfe, mit denen wir uns unter anderem politische Zusammenhänge begreifbar machen – und uns deren Figuren näherbringen.

Der Spitzname „Mutti“ erklärt uns also möglicherweise besser als komplizierte Analysen der Innen- oder Geopolitik, warum Angela Merkel in ihren 16 Jahren Kanzlerinnenschaft Krisen so anging, wie sie es nun einmal tat: resolut, aber auch besorgt auftretend. Es ist ein angenehmeres Bild als das eines strategisch geschickten Machtmenschen, der Merkel in diesem Amt maßgeblich gewesen ist.

Der Legende nach soll den Begriff Michael Glos geprägt haben, Merkels früherer Wirtschaftsminister. Er wollte offenbar andeuten, die Kanzlerin gängele ihre Kabinettsmitglieder. Und zu Anfang verwendeten die Bezeichnung vor allem Männer, die Merkel demütigen wollten. Erst mit der Zeit begann der Spitzname „Mutti“, einen sogenannten Kultstatus zu entwickeln. Mag sein, dass Merkel und ihr Umfeld das Potenzial darin erkannt und befördert haben. Vielleicht ist es aber auch einfach so, dass „Mutti“ – auch wenn das Wort etwas trutschig ist – auf Dauer einfach nicht als Beleidigung taugt. Wer beschimpft schon seine Mama?

Als Mutter der Nation war Merkel mehr Autoritäts- als Identifikationsfigur. In Tim Walz dagegen erkennen sich wohl Millionen Männer wieder, gerade aus dem Mittleren Westen, wo gleich mehrere kritische Battleground States liegen. Mit Walz sind diese Männer ästhetisch-habituell auf einer Wellenlänge, von der Basecap in Tarnfarben über das Autoschrauben hin zur Freude daran, die eigene Tochter mit leicht peinlichen TikTok-Auftritten zu ärgern, teilen sie mit ihm viele Vorlieben. Dazu dürfte es auch biografische Parallelen geben: Walz war Gemeinschaftskundelehrer an einer öffentlichen Schule und diente 24 Jahre lang als Nationalgardist. Er ist weder Jurist noch besonders reich, er ist nicht Elite, sondern Middle Class. Einer von denen also, die er repräsentieren will.

Aber auch er könnte von der Sehnsucht nach einer politischen Vaterfigur profitieren. Davon, dass sich der Trump-müde Teil der USA endlich einen normalen, unkomplizierten Typen wünscht, der die Dinge in die Hand nimmt; einen, der nicht den ganzen Tag Hasskram ins Netz postet und eher der Typ unberechenbarer, notorisch abwesender Rabenvater ist, der ständig „vergisst“, den Unterhalt zu überweisen. Joe Biden versuchte, den American Granddad zu spielen, aber normal war an seiner Kandidatur zuletzt nichts mehr, und unkompliziert schon gar nicht.

Natürlich ist vor allem eines attraktiv an der Verelterlichung von Politikerinnen: die Abgabe von Eigenverantwortung. Lass das mal den Papa machen, die Mama wird’s schon richten – das ist bequem, aber führt auf Dauer womöglich zu genau jenem Diskurskoma, welches besonders die finalen Merkel-Jahre prägte.

Um aber irgendwas „richten“ zu können, müssten Harris und Walz erst einmal die Wahl gewinnen. Dafür spricht, dass Donald Trump mit ihnen als Konkurrenz völlig überfordert scheint. Er hat bislang nicht mal hämische Spitznamen für die beiden verkündet, mit denen er sonst kaum einen politischen Gegner verschont. Vielleicht, weil er ein Problem in der eigenen Verwandtschaft hat. Denn auch für Trumps Running Mate J. D. Vance hat das Internet in der politischen Familienaufstellung schon die passende Rolle gefunden: „America’s weird cousin“, wie man Vance auf TikTok nennt. Der Typ also, dem man bei Familienfeiern möglichst aus dem Weg geht, um nicht seinen Monologen über „kinderlose Katzenfrauen“ lauschen zu müssen.