Im Wirecard-Prozess steht viel aufwärts dem Spiel

Es geht um mehr als milliardenschwere Schadenersatzforderungen, wenn am Freitag die lang erwartete mündliche Verhandlung im Musterverfahren Tausender Wirecard-Anleger gegen Verantwortliche des ehemaligen Dax-Unternehmens und gegen die Wirtschaftsprüfung EY startet. Denn der Zivilprozess muss auch zeigen, ob die deutsche Justiz einem so komplexen Verfahren gewachsen ist.

Die Pleite des einstigen Börsenwunders Wirecard im Juni 2020 schockte die Nation. Es folgte sogar ein Unter­suchungsausschuss des Bundestags, was nach Wirtschaftsskandalen nur selten vorkommt, etwa in Sachen Dieselaffäre, Cum-Ex-Steuerbetrug oder der Hypo-Real-Estate-Pleite während der Finanzkrise.

Inzwischen aber ist der Wirecard-Skandal in den Hintergrund gerückt, weil so viele neue wirtschaftliche und politische Brennpunkte entstanden sind. Am Abendbrottisch bestimmen längst andere Themen die Gespräche, etwa, dass ein Stück Butter manchmal schon fast vier Euro kostet oder dass sicher geglaubte Jobs in traditionsreichen Branchen wackeln. Interessiert die Wirecard-Aufarbeitung noch? Das sollte sie, denn der Rechtsstaat ist gerade in Krisenzeiten ein hohes Gut. Die Justiz muss hier gründlich sein, sie darf sich aber nicht ewig Zeit lassen.

Warum ist das Wirecard-Musterverfahren so komplex?

Für die Wirecard-Geschädigten geht es darum, in vertretbarer Zeit Rechtssicherheit zu erhalten. Ob ihnen Schadenersatz zusteht – und wenn ja, wie viel –, können nur Gerichte entscheiden. Und da wird es knifflig. Denn dass bei Wirecard kriminelle Energie im Spiel war, wurde im großen Strafprozess gegen den ehemaligen Wirecard-Chef Markus Braun deutlich, der parallel in München vor Gericht steht. Die zustän­dige Wirtschaftsprüfung EY kann­ ­daher argumentieren, selbst Opfer eines Betrugs geworden zu sein, was Haftungsansprüche abblocken oder verringern könnte.

Dass Anleger so lange auf eine Entscheidung warten, hat auch mit dem deutschen Rechtssystem zu tun. Schon kurz nach der Wirecard-Insolvenz gingen erste Anlegerklagen beim Landgericht in München ein. Als die Schlange der Kläger immer länger wurde, leitete die von Einzelverfahren überschwemmte Behörde im Jahr 2022 ein Kapitalanlegermusterverfahren ein. Dieses Instrument wurde extra für Mammutprozesse mit einer hohen Zahl von Geschädigten wie im Wirecard-Skandal geschaffen. Musterverfahren sollen zunächst Sachverhalte klären, die für alle Kläger relevant sind. Das spart Zeit, denn die Richter müssen die Grundsatzfragen nicht für jeden Einzelfall wieder und wieder erörtern.

Ökonomisch gesprochen handelt es sich also um eine juristische Plattformstrategie. Das scheint gerade mit Blick auf die große Zahl der Wirecard-Geschädigten sinnvoll. Das Musterverfahren erfasst laut Gericht 8500 Einzelklagen mit einer Schadenssumme von 750 Millionen Euro und Ansprüche von 19.000 weiteren Anlegern. Anlegerschützer sprechen sogar von 50.000 Anlegern und einer Schadenssumme von acht Milliarden Euro. Mit dem Beginn des Musterverfahrens wurden Tausende Einzelklagen am Landgericht ausgesetzt. Sie müssen nun auf den Ausgang des Musterverfahrens vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht warten, was aus Sicht des einzelnen Klägers frustrierend ist, aus Sicht der Justiz aber prozessökonomische Vorteile bietet.

Das Problem: Musterverfahren können sehr lang dauern, wie etwa der Musterprozess der Telekom-Aktionäre nach dem Platzen der Blase am sogenannten Neuen Markt gezeigt hat, dessen Ausgang der zum Musterkläger bestimmte Anleger gar nicht mehr erlebte. Gerade unter den älteren Wirecard-Opfern wächst daher die Angst, dass es ihnen ähnlich ergehen könnte.

Was es noch komplizierter macht: Ein institutioneller Wirecard-Gläubiger ist gegen die Einbeziehung der Wirtschaftsprüfung EY in das Musterverfahren mit dem Argument vorgegangen, dass Bestätigungsvermerke für die Wirecard-Bilanzen keine Kapitalmarktinformationen im Sinne des Musterverfahrensgesetzes gewesen seien. Das klingt nicht gerade überzeugend angesichts der Tatsache, dass Bilanztestate regelmäßig in Geschäftsberichten veröffentlicht werden, die eine wichtige Informationsquelle für Aktionäre darstellen. Das hat auch die Bundesregierung anlässlich der jüngsten Reform des Musterverfahrensgesetzes bekräftigt.

Trotzdem muss über den Einwand höchstrichterlich entschieden werden. Die Klage liegt nun beim Bundesgerichtshof, dessen Entscheidung wohl erst deutlich nach dem Verhandlungsstart im Münchner Musterverfahren zu erwarten ist.