Im irren Selbstgespräch versunken, dies tote Kind noch neben sich

Vor 250 Jahren kam Goethe nach Weimar. Deshalb feiert man dort ein „Faust“-Jahr mit einer Neuinszenierung von Goethes Drama – samt „Layla“-Zitat. In Eisenach wird der große Text auf zwei Stunden verdichtet. Beide Aufführungen beweisen, wie aktuell das Stück immer wieder sein kann.

Jede große Theaterfigur erscheint in dem Licht, das die historische Erfahrung auf sie wirft. Oder anders gesagt: Jede Epoche macht sich ihren Hamlet, ihre Maria Stuart, ihren Friedrich von Homburg. Und in Deutschland vor allem: ihren Faust. Goethes abgründiger Held, der Geistesmensch mit Tathunger und Eroberungsdurst, lädt in all seinen Widersprüchen zur immerwährenden Neubefragung ein wie kaum ein anderer. Mit „dem Faustischen“ wurde sogar ein Wort für diese Zerrissenheit erfunden. Einst als Nationalheld verklärt, sucht man im Faust inzwischen nach den Vorzeichen der sich überlagernden Krisen der Jetztzeit, von Umweltzerstörung bis Männlichkeitswahn.

In Weimar hat die Klassikstiftung, 250 Jahre nach Goethes Ankunft in der thüringischen Residenzstadt, das Themenjahr „Faust“ ausgerufen. Eröffnet wird der Reigen von Veranstaltungen und Ausstellung passend zur Walpurgisnacht. In der Stadt „zwischen Geist und Macht“, wie es Peter Merseburg in „Mythos Weimar“ genannt hat, treffen verschiedenste Interpretationsstränge des „Faust“ zusammen. Friedrich Nietzsche, der 1900 in Weimar starb, meinte einmal, man müsse den Deutschen ihren Faust und ihren Mephistopheles gründlich austreiben. Nietzsche schätzte Goethe sehr, umso weniger aber die Goethe- und Faust-Verklärung im nationalen Taumel des 19. Jahrhunderts.

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Die nationale Selbstbespiegelung in der Figur des Faust – und die damit einhergehende Verklärung des Opfertods von Gretchen – nahm den Weltunterwerfungsdrang des Titelhelden wörtlich. Die dunkle politische Romantik richtete sich im Außer- und Unmoralischen wohnlich ein, da fühlte man sich als Deutscher zu Hause. So wurde auch Hitler ein „faustischer Führer“ genannt, obwohl der bekanntlich Goethe nicht ausstehen konnte – mit einer Ausnahme: Der Satz „Am Anfang war die Tat“ entschuldigte für Hitler alles. Kein Wunder, dass man nach 1945 anders auf Faust blickte, den man aus diesem fatalen Kultus des Irrationalen zu befreien hatte.

Während man im Osten die frühsozialistischen Momente im „Faust“ zu erkennen meinte, wandte man sich im Westen den zerstörerischen Zügen des Goethe-Helden zu, der „beschädigten Seele des großen Mannes“, wie es der Germanist Rüdiger Scholz einmal nannte. Deutlich sah man nun, wie die Entdeckung der produktiven Potenziale der Menschheit mit der Entwicklung der destruktiven Potenziale einherging. Zwei Weltkriege, die Vernichtungslager und die Atombombe hatten das mehr als deutlich gezeigt. Faust erschien nun, als Gegenstück zur vorherigen Verklärung, als Verbrecher, seine Grenzüberschreitung als Verdammnis. Der Übermensch hatte nun ausgedient.

Heute ist das Faust-Bild facettenreicher, wie zwei neuere Inszenierungen in Thüringen zeigen. Am Nationaltheater Weimar schwebt in Jan Neumanns „Faust“ ein riesiger Felsklotz an einem Seil über einem Baum. Es ist das Szenario einer existenziell bedrohten Welt, um die sich hier alles dreht. Mephisto hat sich verdoppelt und tritt nun als Mann und Frau auf, auch Faust gibt es in der alten und verjüngten Variante. Genüsslich breitet Neumann eine Welt aus, die Faust fremd ist. Das Volk in Auerbachs Keller grölt laut „Layla“ („schöner, junger, geiler“), auch bei der Walpurgisnacht geht es zotig zu. Nur bleibt dem Zuschauer das Gefummel unter der Gürtellinie reichlich fremd.

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Am Landestheater Eisenach kürzt Lydia Bunk, die neue Schauspieldirektorin am Haus, den „Faust“ auf knapp zwei Stunden runter, hat aber mehr zu erzählen als Neumann in Weimar, der sich deutlich mehr Zeit nimmt. Bunk reduziert das Geschehen auf eine Dreiergeschichte zwischen Faust, Mephisto und Gretchen, das Szenario ist bereits postapokalyptisch. Die düsterbunten Science-Fiction-Landschaften auf der Bühne – großartige Ausstattung von Birgit Leitzinger! – werden mit den sägenden Sounds der unheimlichen Musik untermalt. Ins Dämmerlicht der Weltgeschichte treten am Ende Gestalten mit ABC-Schutzanzug und Gasmaske, dazu eine Klage-Arie von Händel.

Im Zeichen triumphalen Unheils

Alles in Bunks Inszenierung schreit: Faust, was hast Du angerichtet?! Die großartige Luca Estelle Horvath als Gretchen sitzt am Ende, in den Wahnsinn getrieben, in der Glaszelle – im irren Selbstgespräch versunken, das tote Kind noch neben sich. Nun rächt sich, dass Lukas Umlauft als Faust mit Blut ein großes F auf den nackten Oberkörper von Noah Alexander Wolf als Mephisto gepinselt hat. F wie Faust, aber auch F wie Fatalismus, der mit Blutzoll einhergeht. Was bei Bunk vom Fortschrittsstreben bleibt, ist ein Trümmerhaufen, bei ihr erstrahlt die vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils, wie es an einer Stelle der „Dialektik der Aufklärung“ heißt.

Es scheint, als seien Krisenzeiten auch Faust-Zeiten. Das liegt daran, dass dieser Monumentaltext eine ganze Welt infrage stellt, nicht nur eine Einzelheit. Gezeigt wird der geistige Mensch in seinem Verhältnis zur Sinnlichkeit, zum Volk, zur Religion, zum Eheleben, zur Natur, zum Irrationalen und zum Rausch. Mehr geht kaum. Deswegen ist „Faust“ das große Epos der Aufklärung, ein noch immer ein unerschöpflicher Spiegel der Welt, der in seiner poetischen Tiefe Shakespeares „Sturm“ vergleichbar ist. Nichts ist langweiliger als „Faust“? Im Gegenteil: Der immer neue Versuch, den Faust im Lichte der eigenen Epoche neu zu fassen, zeigt uns im Schattenriss das eigene Zeitalter.

Source: welt.de