Im Gespräch | Lukas Rietzschel zusätzlich seine „Kirschgarten“-Adaption: „Das habe ich die Gesamtheit abgeholzt“
Lukas Rietzschel wartet schon am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Er kommt von einer Probe am Schauspiel Leipzig, wo sein Auftragswerk Der Girschkarten für die Uraufführung am 27. November einstudiert wird. In Anton Tschechows Vorlage, der Komödie Der Kirschgarten, diskutiert eine Familie aus finanzieller Not über die Zukunft des nutzlosen, aber hübschen Gartens.
Bekannt wurde Rietzschel 2018 durch den Roman Mit der Faust in die Welt schlagen, der die Radikalisierung ostdeutscher Jugendlicher thematisiert und gerade verfilmt wurde. Nachdem wir am begrünten Ufer des Pleißemühlgrabens Platz genommen haben, beginnt das Gespräch beim Probenprozess.
der Freitag: Herr Rietzschel, besuchen Sie alle Proben?
Lukas Rietzschel: Ich war nur bei der Konzeptionsprobe anwesend, wo alle zusammenkommen und die Regie-Idee vorgestellt wird. Und ich habe erzählt, was uns an Anton Tschechow interessiert. Ansonsten halte ich mich raus. Ich bin nur der Autor.
Was sagen Sie, wenn ein Schauspieler fragt, was der Figur Dunja oder der Nachbarin früher zugestoßen ist, wie sie geworden sind, wer sie sind?
Das weiß ich doch nicht. Natürlich sind Fragen an die Figuren berechtigt. Aber das sollen die Schauspieler mit Regisseur Enrico Lübbe herausarbeiten. Ich bin da nicht die Autorität. Das würde die Hierarchien bei den Proben auf den Kopf stellen. Ich möchte mich in der Premiere zurücklehnen und Publikum bleiben.
Wie kam Tschechows Spätwerk zu Ihnen, in die Hände eines recht jungen Autors?
Das Schauspiel Leipzig hatte die Idee. Das ist ein wahnsinnig gern gespielter Stoff, und ich habe gehadert. Was gibt der eigentlich her? Ich versuchte, das Komödienhafte darin zu finden. Denn das Stück kommt nicht offensiv lustig daher. Was mich dann gefangen hat, war das ewig phrasenhafte „Wir müssen mal eine Entscheidung treffen“ über diesen Kirschgarten. Am Ende wird gar keine Entscheidung getroffen, und alle sind froh. Jeder durfte mal sagen, was er empfindet. Das nervt mich auch bei aktuellen Debatten, dieses permanente Zirkulieren des „Man müsste mal eine Entscheidung treffen“.
Was das Handeln aussetzt?
Ja, mich interessierte, wie Entscheidungen verhindert werden. Ich habe mich mit „alternativen Fakten“ beschäftigt. Im gleichnamigen, damals gerade erschienen Buch schreibt Nils Kumkar, dass es nicht darum geht, mit Faktenchecks eine Wahrheit zu suchen. Man sollte die Fake News als kommunikatives Mittel dafür begreifen, Entscheidungen hinauszuzögern. Das wollte ich im Stück überspitzen, weshalb alle, die dort zusammentreffen, etwas anderes über das Grundstück artikulieren. Am Ende sind alle damit beschäftigt, diese Behauptungen zu widerlegen. Ich wollte nicht einfach das Gleiche wie Tschechow machen und es dann „Der Birnengarten“ oder so nennen. Ich wollte einen Aspekt herausnehmen und zum zeitlos Parabelhaften überdrehen.
An keiner Stelle im Stück wird irgendetwas über den Osten verhandelt. Das ist einfach ein Grundstück, wo eine Familie zusammenkommt, um über dessen Zukunft zu entscheiden.
Spiegelt sich darin auch die neoliberale Erzählung der 1990er, „Jetzt müssen wir alle zu Machern werden“?
Interessanter Gedanke. Im Motiv liegt der Versuch der Veränderung, um sich dann einer vermeintlich größeren Macht gegenüberzusehen, gegen die man nichts machen kann. Dieses schicksalsergebene „Man müsste ja eigentlich, aber man kann ja gar nicht“ taucht ja auch im Stück auf. Und dann lässt man es eben gleich. Dieses Lamentieren über die nicht veränderbaren Verhältnisse hat etwas Zeitgenössisches. Und wenn man in diesem Durchzirkulieren keine Alternative findet, das nehme ich auch aus Tschechow, wendet man sich der Vergangenheit zu.
Der guten alten Zeit?
Eben: Früher war alles besser. Das Stück sinniert auch darüber, was Nostalgie ist. Das Vergangene wird ja populistisch ausgeschlachtet. Die Utopie liegt nicht mehr in der Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Man müsse Amerika wieder groß machen, Deutschland muss wieder stark werden. Das Heilsversprechen in der Vergangenheit tragen die Figuren alle mit sich herum.
Der Soziologe Zygmunt Bauman hat das „Retrotopia“ genannt. Das ist kein allein ostdeutsches Thema.
Nein, gar nicht. An keiner Stelle im Stück wird irgendetwas über den Osten verhandelt. Das ist nicht lokalisiert, das ist einfach ein Grundstück, wo eine Familie zusammenkommt, um über dessen Zukunft zu entscheiden.
Beim Namen „Girschkarten“ könnte man dialektale Anklänge vermuten.
Ach, das war nicht intendiert. Das sollte den Umstand, dass man nichts mehr glaubt, bis in die Buchstaben hinein drehen. Man weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Es taucht keine Kirsche auf im Stück, das habe ich alles abgeholzt. Niemand kommt aus dieser Komödie heraus, das reizte mich. Die sind in einem Kreis gefangen, wie unsere Debatten in Endlosschleifen.
Wo schon ausgefochtene Debatten wieder aufflammen?
Richtig, wo ich denke: Das hatten wir doch schon besprochen und gelöst, jetzt sind wir wieder an dieser Stelle. Deswegen ist mir eine Figur im Stück sympathisch, die sich darauf einstellt, dass am nächsten Tag die gleiche Debatte von vorn beginnt.
Ich habe lange keinen Roman freiwillig zur Hand genommen, weil ich nicht den Eindruck hatte, dass mich das betraf.
Kurz zur Wiederholung von Debatten: Überraschte Sie der Erfolg von Dirk Oschmanns Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“?
Es hat all jene nicht überrascht, die sich schon eine Weile mit der Thematik beschäftigen. Das ist der Punkt gesellschaftlicher Debatten. Ich meine, wie lange diskutieren wir schon über Feminismus? Es gibt Kreise in der Gesellschaft, für die ist das selbstverständlich, und andere möchten immer wieder beim Urschleim anfangen. Das ist keine lineare Bewegung, das ist ein Immer-wieder-neu-Ansetzen, um die Grundsätze zu klären. Das ist bei der Ostdebatte ähnlich. Die, die schon länger dabei sind, kennen diese Schleife. Es braucht wohl in Debatten dieses wahnsinnig ermüdende Neuverhandeln.
In „Der Girschkarten“ geht es um eine Familie. Zeigen Sie, wie in Ihren früheren Werken, das Große im Kleinen?
Ja, die Familie bot sich an. Das ist ja keine Erfindung von mir. Es überzeugt mich als Prinzip, in der Vorlage war es auch vorhanden. Daran kann man gut sehen, wie Fake News zirkulieren. Das funktioniert nur mit Komplizenschaft – wenn niemand den Bullshit aufnimmt, bleibt er nicht hängen. Es interessierte mich die Gruppendynamik, wie es zur Lagerbildung kommt.
Wie sind Sie zur Literatur gekommen? Haben Sie als Kind viel gelesen?
Eine Leseratte war ich nicht. Ich hatte mich an der Schullektüre abgearbeitet und die für blöd befunden. Ich habe dann lange keinen Roman freiwillig zur Hand genommen, weil ich nicht den Eindruck hatte, dass mich das betraf.
Die Schule hat Ihnen das Lesen abtrainiert?
Leider. Ich glaube, das machen heute viele Lehrer besser. Ich habe mich später aus Eigeninteresse mit dem Kanon beschäftigt. Ich bin über die alten Russen zu den alten Franzosen, über die modernen US-Klassiker dann in die Gegenwart gelangt. Ich habe platt Kanon-Seiten im Internet abgearbeitet.
Aus dem Antrieb, mitreden zu können?
Ich wusste aus Liebeskummer nicht mehr, was ich machen sollte. Meine damalige Angebetete hatte sich in meinen besten Kumpel verliebt. Mit dem Gefühl konnte ich nicht umgehen. Im Internet fand ich den Tipp, Anna Karenina von Tolstoi zu lesen. Und offenbar war ich verzweifelt genug, das zu tun. Da gibt es den zurückgewiesenen Lewin, und ich dachte: Wow, das bin ja ich. Das hat mich wachgeküsst, was diese Art der Verbrüderung angeht, die Literatur schaffen kann. Ich fand Worte dafür, was ich fühlte. Das war der Anfang.
Es fühlte sich damals schon falsch an, die Symptome für den Radikalismus allein im Osten zu suchen. Das ist dann auch gut jetzt, Leute.
Dann fingen Sie selbst an, Literatur zu schreiben?
Das war nicht linear. Ich fing bei einem Zeitungspraktikum an, das Schreiben zu lernen. Das waren kurze Texte über Lokalthemen, aber so kam ich rein. Und dann wollte ich mal probieren, Beschreibungen wie Tolstoi zu schreiben. Diese Texte waren alle wie schlechte Satiren, ich habe sie vernichtet. Das hatte so einen Duktus.
So ein nachahmender Stil ist beim Lernen normal.
Ja, das hat seine Berechtigung, veröffentlichen sollte man das aber auf keinen Fall.
„Mit der Faust in die Welt schlagen“ haben Sie dann veröffentlicht.
Das war für mich ein Versuch, etwas zu verstehen und meine Herkunft und Kindheit zu sortieren. Das habe ich für mich gemacht, das war nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Ich blickte von Kassel, wo ich studierte, in mein sächsisches Zuhause zurück und wunderte mich. Pegida kam, die AfD erstarkte, und ich wurde gefragt, was da los ist. Als alle irrigerweise dachten, dass das ein Ostphänomen wäre, und wir schon wussten, dass es das nicht ist. Aus diesen Versuchen ist dieser Text geworden, und ich hatte das große Glück, dass er einem Literaturagenten auf den Schreibtisch fiel. Der hatte etwas von mir in einer Anthologie gelesen und mich gefragt, ob es etwas Längeres gebe. Damals ging diese Ost-Diskussion in voller Größe los.
Es folgte die dritte Generation Ost, dann ebbte es etwas ab, um Ihr Motiv der Debattenschleifen aufzugreifen …
Und dann erfolgte 2018 in Chemnitz dieser Riesenaufmarsch, und mein Buch kam heraus. Das war für Beobachter, von denen viele einen strukturellen blinden Fleck haben, was den Osten angeht, ein Erklärbuch. Der Verlag hat das auch so beworben. Das war nie so angelegt.
Wie fanden Sie das?
Es fühlte sich damals schon falsch an, die Symptome für den Radikalismus allein im Osten zu suchen. Das ist dann auch gut jetzt, Leute. Wir haben eine Zeit lang gemeint, denen zuhören zu müssen, ihren Enttäuschungen nachgehen zu müssen. Das ist okay, aber daraus leitet sich noch kein Wahlergebnis ab. Das zeugt ja auch von einer Debattenarmut und Unwissen in der öffentlichen Wahrnehmung von Ostdeutschen, wenn das Buch so gefeiert wurde. Mich interessiert gesamtgesellschaftlich Relevantes. Davon handelt mein nächster Roman, der übrigens auch wieder an einem wahllosen Ort spielt. Aber mehr sage ich darüber noch nicht.
Lukas Rietzschel kam 1994 in Räckelwitz in der Oberlausitz zur Welt. Er studierte in Kassel Politikwissenschaft und Germanistik sowie Kulturmanagement an der Hochschule Zittau/Görlitz, wo er heute lebt. Sein 2018 erschienener Roman Mit der Faust in die Welt schlagen (Ullstein) wurde verfilmt und kam im April in die Kinos