Im Gespräch | Ines Schwerdtner: „Wir werden unsrige Gaza-Demo vor möglicher Polizei-Repression schützen“

Palästina ist ein eigener Staat, zumindest für Frankreich und Großbritannien. Deutschland jedoch erkennt Palästina nicht an und blockiert die Sanktionen gegen Israel. Selbst die deutsche Linkspartei hielt sich im Protest gegen den Genozid in Gaza lange zurück. Nun ruft Co-Vorsitzende Ines Schwerdtner zur Demonstration „Zusammen für Gaza“ am 27. September eine Großdemonstration in Berlin. Was kann die deutsche Linke im Nahost-Konflikt ausrichten?

der Freitag: Frau Schwerdtner, was kann eine linke Demo in Berlin konkret gegen die ethnische Säuberung in Gaza tun?

Ines Schwerdtner: Unser Job ist, die Bundesregierung unter Druck zu setzen, dass sie aufhört, Israels Kriegsverbrechen in Gaza zu unterstützen. Palästinensische und jüdische Menschen in Deutschland und aus Israel sagen mir: Kümmert euch um Druck auf die Bundesregierung! Trotz des teilweisen Waffenembargos von Friedrich Merz werden in Palästina mit deutschen Waffen weiterhin Kriegsverbrechen verübt. In Europa blockiert Deutschland gegen mögliche Sanktionen gegen Israel.

Die EU-Kommission schlägt Sanktionen gegen die israelische Regierung vor: Das Aussetzen des Assoziierungsabkommens ebenso wie Sanktionen gegen die ultrarechten Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich und gegen rechtsextreme Siedler. Die Bundesregierung hadert.

Ja, das ist ein absoluter Schlingerkurs. Und das angesichts der Tatsache, dass Gaza-Stadt gerade bombardiert wird, dass die Auslöschungspläne der rechtsextremen Minister Smotrich und Ben-Gvir vollkommen offenbar sind – sie hätten längst sanktioniert werden müssen, wie Slowenien dies bereits tut. Das Assoziierungsabkommen muss ausgesetzt werden, die wirtschaftlichen Beziehung zur EU sind tatsächlich wichtig für die israelische Regierung. Dieser Druck würde wirklich Wirkung zeigen.

Die Initiative BDS fordert schon lange die Sanktionierung Israels und den Boykott von Unternehmen, die durch die Besatzung des Westjordanlands Geld verdienen. Was unterscheidet die EU-Sanktionen konkret von diesem Ansatz von BDS?

Ich wurde im ARD-Sommerinterview auch gefragt, ob die Sanktionen gegen die israelische Regierung antisemitisch seien. Das weise ich klar zurück, doch es ist richtig, hier genau hinzuschauen. Der Aufruf, nicht bei jüdischen Händlern einzukaufen, ist antisemitisch. BDS fordert unter anderem einen pauschalen akademischen und kulturellen Boykott von Einzelpersonen. Ich finde das falsch, wie etwa am Beispiel des Boykottaufrufs gegen den Dokumentarfilm „No Other Land“ zu sehen war. Kultur ist für mich eine wichtige Brücke für Frieden und Gespräche, wo es oft keine mehr gibt. Gleichzeitig stellt sich in diesem Kontext immer die Frage nach der Haltung von Kultur- und wissenschaftlichen Institutionen zur Zerstörung Gazas. Die wirtschaftliche Beziehung zwischen zwei Staaten zu nutzen, um Druck auf eine Regierung auszuüben, die anhaltend Kriegsverbrechen verübt, ist etwas völlig anderes.

Nichts tun könnte sogar strafbar sein: Der Genozidforscher Omer Bartov etwa warnt, Deutschland könne sich völkerrechtlich strafbar machen, wenn es Sanktionen blockiere, denn bei einem Genozid sind alle aufgefordert, ihn zu verhindern. Er sagt auch: „In einer Demokratie kann man nicht sagen, ich habe damit nichts zu tun. Jeder, der schweigt, trägt Verantwortung.“ Gilt es auch für Deutschland? Jeder, der schweigt, ist mitschuldig?

Ich denke ja – eine Mitschuld gilt mindestens für den politischen und medialen Mainstream. In drei Stunden Generaldebatte im Bundestag fiel kein Wort zur Bombardierung von Gaza-Stadt, kein Wort über die Kriegsverbrechen – während die EU die Aussetzung des Assoziierungsabkommens diskutiert! Wenn Friedrich Merz dazu schweigt, dann macht er sich mitschuldig. Das halte ich nicht jedem Menschen in der Bevölkerung vor, aber ich halte es den Politikerinnen und Politikern vor, die hier in der Macht wären, etwas zu tun. Und vielen Medien in Deutschland, die zu lange geschwiegen und die Bilder aus Gaza ignoriert haben.

Sie sprechen nicht von einem Genozid. Warum?

Dutzende Menschenrechtsorganisationen, ausgewiesene Experten und auch der UN-Menschenrechtsrat sprechen mittlerweile von einem Genozid. Am Ende werden die Gerichte entscheiden, ob es sich um einen Völkermord handelt. Und es werden auch die Gerichte entscheiden, wie eine mögliche Komplizenschaft anderer Staaten einzuschätzen ist.

Sie werfen Medien vor, zu lange geschwiegen zu haben. Aber auch Ihre Demonstration kommt spät. Seit Mai 2024 befürchten Völkerrechtler eine ethnische Säuberung in Gaza und genozidale Praktiken.

In anderen europäischen Städten gehen schon seit Beginn des Krieges hunderttausende auf die Straße. Ja, wir sind alle miteinander zu spät. Wer mutig protestiert hat gegen den Gaza-Krieg, hätte schon früher mehr Unterstützung erfahren müssen. Die Bedingungen in Deutschland sind schwierig und die Linke war länger nicht in der Lage, Massenproteste zu organisieren. Das gilt jetzt nicht mehr und wir haben als deutsche Linke eine Verantwortung. Ich bin froh, dass es jetzt klappt mit dem breiten Protest.

Es geht darum, Vertrauen zu schaffen. Ist die Linke ein verlässlicher Partner in der Frage des Protests gegen Vertreibung in Palästina? Das ist für mich viel wichtiger als die Frage, wer wann wo genau mitläuft in einer Demo.

Dass Bündnispolitik zum Thema Gaza schwierig ist, haben Sie selbst erfahren. Ihre Demo sollte erst im Juli stattfinden, wurde dann auf September geschoben. Und jetzt gibt es eine eigene Linke-Demo „Zusammen für Gaza“, die dann zu der Kundgebung „All eyes on Gaza“ führt. Wie kam das?

Das Bündnis versteht sich als überparteilich und das finde ich auch richtig. Uns war wichtig, dass palästinensische, israelische und jüdische Gruppen und Stimmen nach vorne gehen und sprechen. Und wir als Linke wollen alles tun, um diesen Protest zu unterstützen. Klar, ein Bündnis ist kompliziert, jeder, der mal eine Demo vorbereitet hat, weiß das. Aber es ist politisch sehr wichtig, dass wir das hingekriegt haben – auch über die Demo hinaus: Es geht darum, Vertrauen untereinander zu schaffen. Ist die Linke ein verlässlicher Partner in der Frage des Protests gegen Krieg und Vertreibung in Palästina? Das ist für mich viel wichtiger als die Frage, wer wann wo genau mitläuft in einer Demo.

Wie erleben Sie die politische Zusammenarbeit im Bündnis, zwischen jüdischen, palästinensischen, linken Menschen?

Uns eint die Auffassung, dass wir gemeinsam gegen die Verbrechen in Gaza aufstehen müssen. Man spürt, dass das Thema gerade für diejenigen, die betroffen sind, eine hohe Emotionalität hat und viel Verletztheit mit sich bringt. Manche haben Familie verloren in Israel und Gaza. Gleichzeitig gibt es auch in der deutschen Linken ein hohes Potenzial an Identifikation mit dem Nahost-Konflikt. Deshalb ist es wichtig, zu schauen, was einen verbindet. Das gelingt gerade.

Vielleicht erscheint die Zweistaatenlösung gerade politisch schwer denkbar, aber sie ist die einzige Lösung – und damit sie weiter möglich ist, müssen wir für die Anerkennung Palästinas kämpfen.

Unter den Erstunterzeichnerinnen findet sich auch Ramsis Kilani, der 2024 aus der Linkspartei ausgeschlossen wurde. Kilani hat mehrere Familienmitglieder im Gaza-Krieg 2014 verloren. Vorgeworfen wird ihm parteischädigendes Verhalten, er habe die Hamas relativiert und sich für eine Einstaatenlösung ausgesprochen. Wie stehen sie zu Kilanis Ausschluss – und dazu, jetzt trotzdem gemeinsam zu demonstrieren?

Er wurde von einer parteiinternen Schiedskommission aufgrund seiner Aussagen zur Hamas und zur Einstaatenlösung aus der Partei ausgeschlossen. Aber er kann an der Demonstration teilnehmen, wie andere auch. Ich bin froh, wenn zehntausende Menschen auf diese Demo gehen und ich werde nicht bei jedem Einzelnen überprüfen, was er oder sie gesagt hat. In der Partei herrscht jedoch ein Konsens zur Einordnung der Hamas und zur Zweistaatenlösung. Wir halten die Hamas für eine terroristische, faschistische Organisation. Da ziehen wir eine rote Linie.

Ist die Zweistaatenlösung nicht zur Floskel verkommen? Wenn die Bevölkerung Gazas in den Süden vertrieben wird, wo sie ein einem Internierungslager zusammengepfercht werden soll, und im Westjordanland palästinensische Dörfer abgerissen werden und illegale Siedlungen israelischer Rechtsradikaler entstehen – wo wird dann noch Palästina sein?

Wir kämpfen politisch nach wie vor für die Zweitstaatenlösung: Es gibt in dieser historisch gewachsenen Konstellation keine andere Möglichkeit, damit Palästinenser*innen und Israelis friedlich miteinander leben können. Wer gerade die Zweistaaten-Lösung zerstören will, das ist Benjamin Netanjahu mit dem Siedlungsbau, mit den Annexionen. Er versucht, sie durch die Einnahme Gazas zu verunmöglichen. Vielleicht erscheint die Zweistaatenlösung gerade politisch schwer denkbar, aber sie ist die einzige Lösung – und damit sie weiter möglich ist, müssen wir für die Anerkennung Palästinas kämpfen. Wir müssen dennoch auch darüber nachdenken, wie diese Idee der Selbstbestimmung von Palästinenser*innen und Israelis in der jetzigen Lage aussehen kann. Das eine geht nicht ohne das andere.

Was auf einer großen Demonstration geschieht, ist schwer kontrollierbar. Ein Problem trat bereits auf, als der Name des taz-Journalisten Nicholas Potter ohne sein Wissen von Fremden unter den Aufruf „Zusammen für Gaza“ gesetzt wurde. Nicholas Potter war zuvor bereits Opfer einer Hetzkampagne geworden und Morddrohungen auf öffentlichen Plakaten in Berlin ausgesetzt durch Menschen, die seine Kritik an pro-palästinensischen Positionen nicht aushalten.

Sobald er sich beim Bündnis gemeldet hat, wurde sein Name entfernt. Für die Zukunft braucht es einen besseren Mechanismus, Unterzeichner*innen zu verifizieren. Viel wichtiger ist aber, dass es keine Anfeindungen gegen Einzelne geben darf, uns geht es um ein friedliches Miteinander und Solidarität.

Der 7. Oktober und der Genozid in Gaza hat viele Palästinenser und Israelis auch in Berlin traumatisiert und den Diskurs brutalisiert. Immer wieder kommt es zu Gewalt und Verherrlichung von Gewalt. Wie wollen Sie auf der Demo damit umgehen?

Wir haben einen klaren Demokonsens und sagen, wir wünschen uns nur Palästina-Flaggen als Zeichen der Solidarität mit der Bevölkerung, keine anderen Flaggen. Und wir werden diesen Konsens durchsetzen, soweit wir das selbst können, und zwar mit eigenen Ordnern. Solche Ordner kennt man ja von jeder Großdemonstration.

Die Polizei griff Gaza-Demos in Berlin auch schon an, wenn nur Palästina-Flaggen geschwenkt wurden. Wie wollen Sie die Teilnehmer ihrer Demonstration vor Polizeigewalt schützen?

Wir werden unserer Verantwortung für die Teilnehmer*innen gerecht, es wird einen Familienblock geben, das wird ein großer, friedlicher Massenprotest. Und wir werden parlamentarische Beobachter aus unserer Fraktion einsetzen, um vor möglichen Repressionen der Polizei zu schützen.

Gibt es schon Pläne über die Demo hinaus? Ziviler Ungehorsam gehört zum Repertoire der Linkspartei, etwa bei Nazi-Blockaden. Die Global-Sumud-Flotilla, die versucht, die israelische Blockade mit Hilfslieferungen zu durchbrechen, unterstützt die Linke aber nicht?

Ich finde es sehr mutig, wenn Aktivistinnen dieses Zeichen setzen und sich dafür womöglich sogar in Lebensgefahr bringen. Unsere Aufgabe als politische Partei aber ist es nicht, einzelne symbolische Hilfsaktionen zu organisieren – sondern unsere Aufgabe ist es, im Parlament und auf der Straße nachhaltig Druck zu machen auf die Bundesregierung, damit sie das Aussetzen des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel erwägt. Das würde sehr viel ändern.

Ines Schwerdtner, geb. 1989, ist seit 2024 zusammen mit Jan van Aken Vorsitzende der Partei Die Linke. Im Februar 2025 gewann sie unter anderem gegen Beatrix von Storch (AfD) in Berlin Lichtenberg das Bundestag-Direktmandat und arbeitet dort im Haushalts- sowie im Finanzausschuss. Vor ihrer Parteikarriere arbeitete sie als Autorin u.a. für den Freitag