Im Gespräch | Eva Victor darüber hinaus ihren Film „Sorry, Baby“: „Jede Gewalterfahrung ist andersartig“
Der Film Sorry, Baby begleitet die junge Literaturwissenschaftlerin Agnes, die nach einer sexuellen Gewalterfahrung versucht, ihr Leben neu zusammenzusetzen – durch Freundschaft, vorsichtige Nähe und das langsame Wiederfinden einer eigenen Sprache, während die Welt um sie herum ungerührt weiterzieht. Im Interview spricht die 31-Jährige über autobiografische Spuren der Figur, die bewusste Entscheidung, Gewalt nicht zu zeigen, sondern ihr Echo erfahrbar zu machen, über Humor als Überlebensmittel und warum die Kapitel ihres Films nicht chronologisch angeordnet sind.
der Freitag: Frau Victor, „Sorry, Baby“ ist berührend, komisch und traurig zugleich. Wie kam es, dass Sie aus dieser Geschichte ihr Regiedebüt machten?
Eva Victor: Ich wollte einen Film über die Jahre nach einem schrecklichen Ereignis drehen. Über diesen Zustand, in dem die eigene Zeit stehenbleibt, während die Welt unbeirrt weitermarschiert. Man versucht, das Geschehene zu sortieren, die eigenen Erinnerungen neu zusammenzusetzen, das alles geht unglaublich langsam. Aber das Leben draußen schreitet einfach weiter voran. Ich selbst habe nach einer ähnlichen Erfahrung das große Glück gehabt, eine Freundschaft zu erleben, die mich wirklich gerettet und mir das Überleben erleichtert hat. Das wollte ich filmisch weitergeben. Für mich war klar: Der Film soll nicht in erster Linie von der Tat handeln, sondern von der Zeit danach. Von jener Art von Liebe und Nähe, die es braucht, um überhaupt wieder heilen zu können. Sorry, Baby ist deshalb vor allem ein Film über Freundschaft. Über diesen stillen Beistand. Die Gewalt ist Teil des Lebens und auch Teil dieses Films, aber sie ist nicht sein Zentrum.
Sie führen Regie und spielen die Hauptrolle. Wie beeinflussten sich diese beiden Ebenen?
Im Grunde ist es dieselbe Arbeit: Agnes’ Geschichte so ehrlich wie möglich erzählen. Die Doppelrolle hat auch eine sehr persönliche Bedeutung. Nach einem Trauma hat jemand über deinen Körper verfügt. In diesem Film habe ich selbst entschieden, wohin mein Körper geht – und war umgeben von Menschen, die diese Entscheidungen unterstützten. Diese Erfahrung war unglaublich heilsam.
Agnes trägt Züge von Ihnen, aber sie ist nicht identisch mit Ihnen.
Sie hat Anteile von mir, aber ebenso Eigenschaften, die eher Wunschbilder sind: ihre Direktheit, ihre Gelassenheit, ihr Umgang mit Schweigen. Sie muss sich nicht permanent erklären, sie erträgt Stille. Diese Haltung zu spielen, war für mich befreiend – eine Möglichkeit, den alltäglichen Zwang abzulegen, ständig reden oder höflich sein zu müssen.
Die Freundschaft zwischen Agnes und Lydia bildet den emotionalen Kern des Films. Wie entstand diese Beziehung beim Schreiben – und wie wichtig war Naomi Ackie als Partnerin?
Für mich war Agnes immer „der Mond“, Lydia dagegen „die Sonne“. Ich suchte nach jemandem, der dieses Licht verkörpern kann. Die Besetzung dieser Figur war die wohl wichtigste Entscheidung des gesamten Films. Als ich Naomi traf, war ich überwältigt von ihrer Wärme und Energie. Ich kannte sie aus vielen dramatischen Rollen, aber im persönlichen Kontakt zeigte sich ihre ungeheure Verspieltheit. Beim gemeinsamen Lesen war sofort die Chemie da. Ich habe dann das Drehbuch noch einmal durchgearbeitet und auf sie zugeschnitten. Am Set hatte sie größtmögliche Freiheit, Dialoge neu zu formulieren. Wichtig war mir, dass sie sich sprachlich vollkommen zu Hause fühlt.
Der Film ist in Kapitel gegliedert und nicht chronologisch erzählt. Warum diese Struktur?
Ich gab mir zunächst eine ganz einfache formale Vorgabe: fünf Jahre, fünf Kapitel. Jedes Kapitel sollte für einen Zustand stehen, der dieses Jahr emotional prägt. Zeit wird nach einem Trauma nicht mehr objektiv erlebt. In einigen Momenten scheint sie stillzustehen – etwa in der Geschworenenszene, die komplett in Echtzeit abläuft und sich anfühlt, als würde sie ewig dauern. Im nächsten Kapitel hingegen rast alles: neuer Job, Lydias Verlobung, Lebensentscheidungen, alles ist in Bewegung. Für mich war diese Struktur auch ein pragmatisches Mittel beim Schreiben: erst zwanzig Seiten schaffen, dann noch mal zwanzig – so entsteht irgendwann ein ganzer Film. Im Schnitt haben wir mit vielen Varianten experimentiert, auch mit chronologischen Fassungen. Am Ende kehrten wir doch wieder zur ursprünglichen Kapitelform zurück, weil sie den psychischen Zustand nach einem Trauma am ehrlichsten widerspiegelt: den Verlust eines klaren Zeitgefühls.
Vieles bleibt dabei unausgesprochen oder unsichtbar – insbesondere der Übergriff von Agnes‘ Doktorvater.
Das Nicht-Zeigen war eine bewusste moralische und ästhetische Entscheidung. Mir war wichtig, einen Film zu schaffen, den Menschen anschauen können, ohne retraumatisiert zu werden. Keine überwältigenden Bilder von Gewalt, die den Körper schockieren, sondern einen Raum öffnen, in dem man fühlen kann, ohne abzuschalten. Der Film entwickelt darum auch seine eigene Sprache. Er nennt das Geschehene „die schlimme Sache“. Das Wort „Vergewaltigung“ fällt nur ein einziges Mal – aus dem Mund des Arztes. Wir bewegen uns sehr vorsichtig durch die Sprache dieses Themas, weil wir eine eigene Tonlage dafür finden wollten.
Warum war Ihnen das ein Anliegen?
Es ist interessant zu beobachten, wie viele Menschen in Bezug auf den Film ganz selbstverständlich Begriffe wie „Vergewaltigung“ oder „sexuelle Gewalt“ benutzen – und natürlich ergibt das Sinn. Mein Film versucht, eine sanftere, subjektivere Sprache zu entwickeln. Ich weiß nicht, ob unsere Welt schon all die Worte besitzt, die es braucht, um über dieses Thema nuanciert zu sprechen. Wir haben große Schwierigkeiten mit Zwischentönen. Jede Gewalterfahrung ist anders – und jeder Mensch verdient seine eigene Stimme. Ich hoffe sehr, dass wir ein Sprechen darüber finden, das nicht selbst wieder gewaltsam wirkt.
Besonders eindrücklich ist die Szene beim Arzt, dem jede Empathie fehlt.
Ich habe diesen Film für die Person gemacht, die ich selbst einmal war – und dafür gesorgt, dass nichts darin so triggernd ist, dass man es nicht aushalten könnte. Die Szene sollte zeigen, wie Sprache verletzen kann. Der Arzt tut das, wozu ihn sein Beruf verpflichtet – genau wie die Frauen von der Hochschulverwaltung. Diese Institutionen sind die Orte, die es Menschen nach schlimmen Erfahrungen besonders schwer machen, sich sicher zu fühlen. Sie sind keine Monster; sie führen einfach ihre Jobs so aus, wie sie dafür ausgebildet wurden. Aber sie begreifen nicht, dass diese Arbeit selbst verletzend ist. Es ist leider Realität, dass Systeme meist sich selbst schützen. Agnes wird nicht von Institutionen aufgefangen, sondern von Einzelnen – von Lydia, von Nachbarn, von Fremden.
Auch der Täter bleibt lange ambivalent.
Mit dem Schauspieler Louis Cancelmi habe ich sehr intensiv darüber gesprochen, wie viel Wärme diese Figur ausstrahlen muss. Das Publikum sollte ihn nicht als „bösen Mann“ lesen, bevor Agnes ihn so erlebt. Wir wollten nicht im Vorhinein zeigen, dass etwas mit ihm nicht stimmt – denn auch Agnes erlebt dieses Umschlagen zu spät. Es geht nicht um Gut und Böse, sondern um zutiefst fehlerhafte Menschen, die enormen Schaden anrichten können, ohne sich selbst als destruktiv wahrzunehmen.
Der Ton des Films oszilliert dabei zwischen Tragik und Humor.
Komik ist für mich ein Werkzeug. Sie macht sichtbar, wie schlecht die Welt darauf vorbereitet ist, jemanden in einer solchen Lebenslage aufzufangen. Aber sie ist auch Teil von Freundschaft – gemeinsames Lachen schafft Nähe. Und gleichzeitig gibt es radikal ernste Szenen, die nicht aufgeweicht werden dürfen. Beides darf nebeneinander stehen.
Was wünschen Sie sich vom Publikum?
Vielleicht, dass man lernt, zuzuhören. Wirklich zuzuhören. Wenn Menschen aus diesem Film eine Sprache oder eine Haltung mitnehmen, um liebevoller mit anderen zu sein, wäre das das größte Geschenk. Ich habe gesehen, wie unterschiedlich die Reaktionen in verschiedenen Ländern sind. In Europa gibt es weniger Angst vor Unbehagen, mehr Geduld, mehr Bereitschaft zuzuhören.
Sie sind 1994 in Paris geboren, in San Francisco aufgewachsen. Wie europäisch fühlen Sie sich?
In den USA sagen alle: „Du bist so europäisch.“ Wenn ich in Europa bin, fühle ich mich dort einfach zu Hause. Mein großer Traum ist die französische Staatsbürgerschaft. Ich wurde zwei Monate zu spät geboren, kurz nachdem das Gesetz geändert wurde, sonst wäre ich automatisch Französin gewesen. Wenn Sie also jemanden kennen: Ich bin bereit, jederzeit umzuziehen. Sie können gern schreiben: „Eva will Therapie und Staatsbürgerschaft.“
Eva Victor ist 1994 in Paris geboren und aufgewachsen in San Francisco. Ihre Karriere begann als Satire-Schreiberin für die feministische Webseite Reductress. Als Schauspielerin trat sie in der Serie Billions auf. Sorry, Baby ist ihr Regiedebüt