Im Gespräch | Ein Auge fürs Detail: Michael Maar übrig Literatur von Homer solange bis Hemingway
Michael Maar empfängt in seiner Berliner Altbauwohnung, in einer stillen Seitenstraße des Kurfürstendamms. In jedem Raum (außer der Küche) stehen Bücherregale. Das wäre jetzt eigentlich kein nennenswertes Detail, das Erstaunliche aber: Die Werke sind akribisch geordnet wie in einer kuratierten Buchhandlung – keine doppelten Reihen, keine quer gelegten Bände.
Maar, Jahrgang 1960, ist Literaturkritiker, Stilist, Entdecker – und Sohn von Paul Maar, dem Schöpfer des Sams. Ein berühmter Name, der ihn nie belastet, aber früh in eine Welt aus Geschichten und sprachlicher Präzision geführt hat. Mit seinem neuen Werk Das violette Hündchen widmet er sich einer lebenslangen Obsession: dem Detail in der Literatur. Er porträtiert darin rund 40 Autorinnen und Autoren, von Homer bis Colette, von Nabokov bis Hemingway.
der Freitag: Herr Maar, was macht für Sie ein gutes literarisches Detail aus? Muss es zwingend dem Plot dienen – wie das berühmte Gewehr bei Tschechow, das am Ende gnadenlos abgefeuert werden muss?
Michael Maar: Nein, eben nicht. Natürlich gibt es diese Details, die für den Plot entscheidend sein können oder wie ein Kristall das Ganze spiegeln. Aber mich reizen gerade die Details, die keine Funktion im Plot erfüllen. Deshalb auch der Titel meines Buches. In Tolstois Krieg und Frieden gibt es ein violettes Hündchen – es spielt für den Handlungsverlauf keine Rolle, bleibt aber im Gedächtnis. Es tänzelt in einer Zelle herum, später begleitet es einen traurigen Zug russischer Gefangener auf ihrem Marsch. Ein schönes, nutzloses Detail. Solche duftenden Strauchrosen am Wegrand des Plots machen für mich große Literatur aus.
Also auch zweckfreie Details haben eine Art literarische Daseinsberechtigung?
Unbedingt. Viele der stärksten Details sind gerade nicht handlungsentscheidend. Es geht mir um das Schöne, das Nicht-Subsumierbare. Um das, was einfach für sich steht. In meinem Buch habe ich das auch philosophisch unterfüttert – mit dem von Duns Scotus geprägten Terminus der „haecceitas“. Ein Begriff aus dem Mittelalter: das Einmalige, Unkategorisierbare. Das trifft es.
Sind russische oder britische Details anders als deutsche?
Vielleicht legen die Briten mehr Wert aufs Frühstück, literarisch gesehen. Aber im Großen und Ganzen: nein. Gute Literatur ist immer Weltliteratur. Die Details, die bleiben, sind nicht national gebunden. Sie sind – um Daniel Kehlmann zu zitieren – alles. Nicht nur nicht unwichtig. Sondern: Alles.
Sie sagen: Details haften sich an wie mit Saugnäpfen. Was haftet bei Ihnen besonders hartnäckig?
Etwa Emma Bovarys Kutschenfahrt mit verhängten Fenstern. Zwei Stunden lang kreist sie mit ihrem Liebhaber ziellos durch Rouen. Niemand könnte den Finanzkollaps dieser Frau in allen Einzelheiten nacherzählen, aber dieses Bild bleibt. Oder die Narbe an Odysseus’ Schenkel. Solche Dinge überleben ganze Handlungsverläufe.
War das Hündchen also der Auslöser? Oder gab es da auch biografische Anklänge – etwa an das Kinderbuch Ihres Vaters „Der tätowierte Hund“, das 1968 erschien, als Sie ein kleiner Junge waren – also vor dem „Sams“?
(lacht) Das haben Sie aber gut recherchiert! Aber nein, daran habe ich beim Schreiben gar nicht gedacht. Ich habe das Buch zwar meinem Vater gewidmet, aber das war nicht bewusst als Hommage gemeint. Aber schön, wenn sich solche Linien im Nachhinein ergeben. Wir sollten gemeinsam auftreten: Er liest aus dem Tätowierten Hund, ich aus dem Violetten Hündchen …
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Sie porträtieren in Ihrem Buch rund 40 Autorinnen und Autoren. Was war zuerst da: das Detail oder die Figur dahinter?
Das Detail. Ich arbeite mich daran entlang, lande dann fast automatisch beim Porträt. Ich schreibe im Grunde seit 30 Jahren an diesem Buch. In früheren Arbeiten – Essays, Kritiken, auch in meinem Buch Die Schlange im Wolfspelz – finden sich viele Vorstudien dazu.
Bei Ihrer Arbeit für Ihren Bestseller „Die Schlange im Wolfspelz“ haben Sie Hildegard Knef entdeckt …
Ja, und das kam so: Eine Rundfunkredakteurin empfahl mir Der geschenkte Gaul, und nach den ersten Seiten war ich begeistert – von der Sprache, vom Tonfall, von der Unverblümtheit. Das Buch war eigentlich schon fertig, aber ich habe die Knef noch hineingeschmuggelt. Und erst danach habe ich erfahren, dass sie (er zeigt aus dem Fenster) jahrelang genau gegenüber gewohnt hat, in den Siebzigern. Das hat mich amüsiert, aber ich hätte sie ohnehin aufgenommen, selbst ohne diese kleine Nachbarschaftsgeschichte.
Und wer war es diesmal?
Viele. Graham Greene etwa. Ich kannte den Namen, aber nicht das Werk. Das Ende einer Affäre hat mich enorm beeindruckt. Und, kaum zu glauben: Ich hatte Hemingway nie richtig gelesen. Dann saß ich da – fast wie ein 60-Jähriger, der zum ersten Mal den Eiffelturm sieht – und dachte: Das ist ja wirklich großartig! Diese Mischung aus Knappheit und sinnlicher Opulenz.
Hemingway ist reich an nutzlosen Details?
Ja, unbedingt! Etwa seine Angelszenen – die treiben den Plot nicht voran, sind aber herrlich. Auch darin liegt Größe.
Wie sieht es mit Colette aus? Die porträtieren Sie ja fast biografisch …
Bei ihr kam ich vom Hundertsten ins Tausendste. Ihre Literatur spiegelt ihr Leben – und umgekehrt. Ich habe Chéri noch einmal gelesen und war sehr eingenommen. Colette war keine Heilige, eher das Gegenteil, aber sie hatte ein faszinierendes Leben. In Frankreich Nationalheiligtum, bei uns fast vergessen. Ich vergleiche sie im Buch mit Virginia Woolf, auch wenn beide sehr unterschiedlich sind.
Hat die Arbeit an dem Buch Ihre Sicht auf Literatur verändert?
Nein. Schon als Germanistikstudent in Bamberg habe ich mich nie für die großen Literaturtheorien interessiert, die sich alle zehn Jahre abwechseln. Mich haben genau zwei Dinge interessiert, die aber letztlich zusammenfallen: Stil und Detail. Und deshalb ist dieses Buch eine Summe meiner Lektüre aus 40 Jahren.
Ist es eigentlich möglich, dass künstliche Intelligenz solche Details erzeugt? Die Verlagswelt treibt das Thema gerade um – vor noch einem Jahr wurde es belächelt …
Sie wird vieles verändern, gerade bei Sachbüchern oder Übersetzungen. Aber Literatur? Nein. T. S. Eliot sagte, das Ziel der Literatur sei „to turn blood into ink“. Das kann die KI nicht. Sie hat keine Erfahrungswirklichkeit. Sie kennt nur Sprache, aber nicht Gefühl, nicht Sinnlichkeit. Sie weiß nicht, was wahr ist. Sie kombiniert nach Wahrscheinlichkeit.
Aber könnte sie nicht lernen, wie ein Mensch zu schreiben?
Möglich, dass sie uns täuscht. Aber da fehlt das Eigentliche – das gelebte Leben. Die KI riecht nichts, fühlt nichts, erinnert sich nicht. Literatur ist mehr als stilistische Simulation. Sie ist Erfahrung, Form, Risiko.
Ein anderes Detail: Sie halten eisern an der alten Rechtschreibung fest. Prinzipientreue oder Marotte?
Prinzip. Ich schreibe nach dem Dudenstand von 1996. Die Reform war ein bürokratisches Monster. In der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung haben wir dagegen protestiert – nicht sehr erfolgreich, aber immerhin. Meine Lektoren machen zähneknirschend mit. Für die Schweizer mache ich gern ein „ss“ aus meinem „ß“.
Und wenn Sie sich mit Ihren Haus- beziehungsweise Wohnungsgöttern – wenn ich mich hier umschaue – beschäftigen, darunter Thomas Mann, Nabokov, Proust: Wird das nicht irgendwann langweilig?
Niemals. Nabokov etwa lese ich weniger, aber nie mit Langeweile. Man entdeckt neue Schwächen, ja – Thomas Manns frühe Novelle Wälsungenblut ist heute schwer zu ertragen, fast schon schaurig –, aber die Größe des Autors bleibt. Und es kommen neue Götter hinzu: Graham Greene, W. Somerset Maugham. Viele angelsächsische Autoren sind unterschätzt, weil sie damals zu populär waren. In meinem Pantheon ist noch viel Platz.
Sie sagen, das Detail kann sogar theologische Fragen berühren. Wirklich?
Gelegentlich. Ich nenne im Buch ein Beispiel: Ob Jesus am Kreuz starb oder nicht – das hängt möglicherweise an einem medizinischen Detail: CO₂-Vergiftung und die Rettung durch Lanzenstich. Es geht also nicht nur um violette Hündchen – es kann auch um die Grundfesten der Religion gehen. Und das betrifft zirka 2,4 Milliarden Christen auf der Welt.
Sie gelten als jemand, der lieber lobt als verreißt …
Ich stehe dazu. Es gibt so viele schlechte Bücher – warum soll ich meine Zeit damit verschwenden? Ich will zum Lesen verführen, nicht belehren. Nur einmal habe ich Botho Strauß in einem Essay kritisiert – das hat er mir lange übel genommen. Aber in der Regel schreibe ich nur über Bücher, die ich liebe oder bewundere.
Michael Maar ist Literaturkritiker und Essayist. Er wurde 1960 in Stuttgart geboren und ist der Sohn des Kinderbuchautors Paul Maar, des Erfinders des Sams. Michael Maars Buch Das violette Hündchen ist bei Rowohlt (592 S., 34 €) erschienen