Ifo-Präsident Fuest: „Wir sehen tatsächlich zusammenführen wirtschaftlichen Niedergang“

Herr Fuest, wie steht es im Herbst 2025 um die deutsche Wirtschaft?

Die Lage ist dramatisch. Die Schwierigkeiten sind größer, als viele zurzeit vielleicht anerkennen wollen.

Woran machen Sie das fest? An den Stellenstreichungen, die Bosch und Lufthansa angekündigt haben?

Ich halte etwas anderes für entscheidend. Die Wirtschaftsleistung ist heute auf demselben Niveau wie 2019. Das heißt, wir haben jetzt schon sechs Jahre der Stagnation hinter uns. Das hat es vorher noch nie gegeben in der Geschichte der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg. Die privaten Investitionen sind sogar auf das Niveau von 2015 gefallen. Das führt dazu, dass wir in unserer Analyse die Schätzung des Produktionspotentials der deutschen Wirtschaft immer weiter nach unten revidieren müssen. Wir sehen tatsächlich einen wirtschaftlichen Niedergang.

Was heißt das für den Arbeitsmarkt?

Es gibt Arbeitsplatzverluste in der Industrie, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen darf, weil die Industrie mit ihrem Produktivitätswachstum ein sehr wichtiger Bereich für die Volkswirtschaft ist. Daraus folgt zumindest derzeit aber kein massiver Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit, weil in anderen Bereichen Arbeitsplätze entstehen. Das ist erst mal eine gute Nachricht. Aber wenn man genauer hinschaut, steckt auch darin ein Problem, insbesondere wenn diese Stellen im öffentlichen Sektor entstehen, bei Gesundheits- und Pflegeberufen. Dort ist erstens die Produktivität nicht so hoch. Und zweitens handelt es sich um Stellen, die zumindest teilweise aus Steuern und Abgaben finanziert werden. Das fügt sich zu einem Gesamtbild, in dem die Wirtschaft insgesamt stagniert, die privaten Investitionen sinken und der Staatskonsum steigt. Das ist auf Dauer nicht durchzuhalten.

Wie finden Sie es, dass die Bundesregierung sich jetzt verstärkt um einzelne Branchen kümmert, zuletzt mit dem Autogipfel im Kanzleramt?

Das ist Chance und Risiko zugleich. Die Chance besteht darin, dass die Politik mit der Praxis spricht und die tatsächlichen Probleme erkennen kann. Das Risiko besteht darin, dass man sich dabei zu sehr auf Hilfen für bestehende Branchen konzentriert, die vielleicht nicht die Wachstumstreiber der Zukunft sind. Die Autoindustrie wird für Deutschland wichtig bleiben. Aber daneben müssen wir auch ermöglichen, dass Neues entsteht. Welche Branchen in Zukunft das Wirtschaftswachstum in Deutschland antreiben werden, wissen wir noch nicht so genau. Dazu zwei Zahlen, die illustrieren, wie die Finanzwelt das Zukunftspotential unterschiedlicher Branchen bewertet: Der Marktwert aller deutschen Stahlunternehmen zusammen liegt aktuell bei rund fünf Milliarden Euro. Das vermutlich erfolgreichste deutsche Start-up der vergangenen Jahren, der Softwareentwickler Celonis, kommt mit einem Marktwert von 13 Milliarden Euro allein auf zweieinhalbmal so viel. Ich würde jetzt also eher keinen Stahlgipfel veranstalten, um dort von fünf auf sechs Milliarden Euro zu kommen. Was wir nach meiner Meinung dagegen dringend brauchen, ist ein Gipfel für Start-ups und Innovation, nicht für das Gestern, sondern für das Morgen.

Was sagen Sie denen, die in der Stahl- oder Autobranche arbeitslos werden?

Wir haben gesamtwirtschaftlich keine hohe Arbeitslosigkeit, und das wird sich wegen der Bevölkerungsentwicklung auch nicht so schnell ändern. Das heißt: Jeder in Deutschland wird gebraucht. Ich will aber nicht verhehlen, dass Leute, die ihren Arbeitsplatz in der Industrie verlieren und eine Stelle in einem anderen Wirtschaftsbereich annehmen, beim Einkommen gewöhnlich Zugeständnisse machen müssen. Das ist bitter, gehört aber zu dem Strukturwandel, den wir nicht aufhalten können.

Digital wollen zurzeit alle sein. Wo sonst schlummert in Deutschland potentielles Wirtschaftswachstum?

Zunächst einmal bedeutet Digitalisierung, dass die gesamte vorhandene Wirtschaft mit Techniken wie der Künstlichen Intelligenz durchdrungen werden muss. Dadurch wird die Produktivität aller Branchen steigen. Deutschland muss dabei, egal in welcher Branche, auf Unternehmen setzen, die mit ihren Lösungen Marktnischen besetzen, etwa im Anlagenbau. Das ist ja schon in der Vergangenheit das Erfolgsgeheimnis unserer vielen sogenannten „Hidden Champions“ gewesen. Bei der Massenproduktion dagegen werden Schwellenländer immer Vorteile haben. Das hat sich zuletzt deutlich beim Klimaschutz gezeigt. Die Vorstellung, dass daraus ein Geschäftsmodell für Deutschland werden könnte, hat sich größtenteils als Wunschdenken entpuppt. Eben weil Wärmepumpen, Elektroautos, Solarzellen und bis zu einem gewissen Grad auch Windturbinen Massenprodukte geworden sind, die anderswo viel günstiger hergestellt werden können als bei uns.

Gehört es nicht zum unaufhaltsamen Lauf der Dinge, dass Länder mit jüngerer Bevölkerung wirtschaftlich aufholen und wir zurückfallen?

Selbst wenn es so wäre, müssten wir nach meiner Meinung immer noch alles daransetzen, dass der Abstand zu den anderen nicht zu groß wird. Aber ich halte Deutschland für ein Land, das aus eigener Kraft die Weichen stellen kann, um zum wirtschaftlichen Wachstum zurückzukehren. Wir sind in der Lage zu Reformen; unsere Kreditwürdigkeit wird nicht infrage gestellt; wir haben großartige Unternehmerinnen und Unternehmer. Diese Stärken müssen wir nutzen.

Wie gut gelingt das der seit Mai amtierenden Bundesregierung bisher?

Zwei Dinge sind positiv. Erstens hat sich Deutschland mit dem Beschluss zu massiven Investitionen in die Sicherheit geopolitisch so positioniert, wie es meines Erachtens nötig war. Das war ein großer Schritt, der auf ganz Europa abstrahlt und auch für die wirtschaftliche Entwicklung wichtig ist. Zweitens ist es zu begrüßen, dass die neue Regierung für ihre Wirtschaftspolitik das Wachstum als zentrales Ziel ausgerufen hat. Weniger positiv finde ich in diesem Punkt bislang die Umsetzung.

Sind Ihnen die neuen Beschlüsse des Koalitionsausschusses nicht genug?

Der Beschluss zum Bürgergeld weist in die richtige Richtung, geht aber nicht weit genug. Es fehlen Veränderungen bei den Anrechnungsregeln, und es fehlt eine bessere Koordinierung der verschiedenen Sozialleistungen, vor allem eine Abstimmung von Bürgergeld beziehungsweise neuer Grundsicherung und Wohngeld. In der wichtigen Frage der Regeln für die Autoindustrie ist die Regierung offenbar uneinig, das ist schlecht.

Was missfällt Ihnen außerdem?

Es fehlt einfach ein Konzept. Das kann man daran erkennen, dass nur ein Teil der Maßnahmen in die richtige Richtung geht, etwa die beschleunigten Abschreibungen. Man fördert auch Forschung und Entwicklung etwas mehr als zuvor. Leider wurde aber auch einiges beschlossen, das bestimmten Gruppen nutzt, aber nicht auf das Wachstumsziel einzahlt. Nehmen Sie die steuerliche Entlastung von Überstunden. Das wird nicht dazu führen, dass wesentlich mehr Arbeit angeboten wird als bisher, sondern eher zur Steuervermeidung. Sehr enttäuschend ist zudem, was in der Rentenpolitik passiert. Da denke ich nicht nur an die Mütterrente, die ich den Müttern gönne. Aber wir wissen alle, dass wir bei den Renten eher Leistungen beschränken müssen – und da ist nichts vorgelegt worden. Stattdessen werden neue Leistungen wie die Frühstartrente eingeführt.

Für jedes Kind gibt es 10 Euro im Monat für den Vermögensaufbau. Was stört Sie daran?

Erst mal das Gießkannenprinzip. Die meisten dieser Jugendlichen brauchen die 10 Euro nicht. Dann glaube ich nicht an den erhofften pädagogischen Effekt. Was die Jugendlichen lernen, ist doch: Sparen bedeutet, dass ich vom Staat Geld bekomme. Und zu allem Überfluss bauen wir dafür auch noch eine gewaltige Bürokratie auf. Das ist der falsche Weg.

Wundert Sie das? Politiker wollen gewählt werden. Da hilft es nicht, den Wählern Kürzungen zuzumuten.

Es ist ja nicht das Ziel, den Leuten etwas zuzumuten. Es geht darum, unseren Wohlstand für die Zukunft zu sichern und wieder steigern zu können. Es geht um einen Plan, wie es besser werden kann. Dazu kommt: Viele Reformen, die wir jetzt brauchen, sind keine Zumutung. Eine Strategie für Innovation zu entwickeln, mutet keinem Wähler etwas zu. Es wäre auch keine Zumutung, das Geld aus dem Sondervermögen sinnvoll für die Infrastruktur auszugeben, statt es teilweise für andere Zwecke auszugeben.

Im Winter haben Sie mit drei prominenten Kollegen noch für die 500-Milliarden-Euro-Kredite samt Aufweichung der Schuldenbremse argumentiert. Wie sehr reut Sie das?

Überhaupt nicht. Ich bin nach wie vor heilfroh, dass Deutschland diesen schwierigen Schritt gemacht hat. Im Kern ging es um die Finanzierung von Verteidigung. Natürlich bestand dabei immer das Risiko, dass diese Mittel zweckentfremdet würden. Davor haben wir damals schon gewarnt. Wenn es allein nach mir gegangen wäre, hätten wir auf den Teil mit den Infrastrukturinvestitionen gern verzichten können. Aber das hing in der politischen Debatte zusammen, auch wenn das heute leicht vergessen wird. Wer sich jetzt hinstellt und wohlfeil sagt, dann hätte man eben die ganze Operation nicht machen sollen, der muss auch erklären, woher sonst das zusätzliche Geld für die Verteidigung hätte kommen sollen.

Warum kritisieren Sie dann so scharf, wie das Geld nun ausgegeben wird? Jens Südekum, damals einer Ihrer Mitstreiter, ist großzügiger. Nur weil er den Finanzminister berät?

Ich schätze Jens Südekum wirklich sehr. Und wenn er jetzt sagt, das Sondervermögen werde nicht komplett zweckentfremdet, hat er damit natürlich recht. So sieht es ja auch die Bundesbank: Nach ihrer Rechnung werden nicht 100 Prozent der Mittel zweckentfremdet, sondern 93 Prozent. Das ist vielleicht zu hoch gegriffen. Aber dass überhaupt Mittel zweckentfremdet werden, ist schlimm genug!

In Ihren Augen ist das also nicht bloß eine technische Debatte?

Nein. Man kann sich nicht 500 Milliarden Euro für zusätzliche Investitionen leihen, um dann die Investitionen im Kernhaushalt zu senken, sodass am Ende deutlich weniger als 500 Milliarden Euro zusätzlich in Investitionen fließen und das Geld stattdessen Haushaltslöcher stopft. Das können wir den Regierungen auf Bundes- und Landesebene nicht durchgehen lassen.

Weil Schulden so schlimm sind?

Schulden sind nicht per se schlimm, sondern manchmal auch sehr nützlich. Ich vergleiche sie deshalb gern mit Antibiotika, die schon so vielen Menschen das Leben gerettet haben. Aber auch Antibiotika sind nicht per se gut oder schlecht. Es kommt immer darauf an, wie man sie einsetzt. Mehr Schulden heute bedeuten höhere Zinszahlungen morgen. Da müssen wir von der Politik schon verlangen, dass sie das, was sie verspricht, auch hält.

Sie treten oft als Mahner auf. Macht es Spaß, so streng zu sein?

Mich würde es freuen, wenn es mal nichts zu kritisieren gäbe. Aber wenn es Probleme gibt, sollten sie öffentlich diskutiert werden. Ich bin sehr dankbar, dass Wissenschaftler das in unserem Land tun können. Auf dieser Grundlage können die Politiker dann ihre Entscheidungen treffen – und die Wähler können sie abwählen, wenn sie unzufrieden sind.

Ist in diesem Fall der Zug nicht schon in die falsche Richtung abgefahren?

Man kann in jedem künftigen Haushaltsjahr umkehren. Dafür ist es nie zu spät.