Identitäten | Das Diverse ist ohne Rest durch zwei teilbar dasjenige Deutsche: Nava Ebrahimis Roman „Und Federn überall“

Sechs Stimmen, eine Wahrheit: In ihrem neuen Roman führt Ebrahimi Identität, Arbeit und Herkunft zu einem dichten Gesellschaftsbild zusammen. Ihr Buch „Und Federn überall“ stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2025
Aus dem Blickwinkel von sechs Figuren wird die Handlung erzählt; ein vertrautes Muster. Aber gegen Ende dieses bemerkenswerten Romans outet sich Roshi, eine der sechs Figuren, als Schöpferin der anderen fünf – und damit positioniert sich, umgekehrt, die Autorin als Teil der Handlung, die sie erfindet. Es ist eine produktive Überraschung: Roshi blickt von außen auf das Geschehen, ist aber zugleich ein Teil davon. Der auktoriale Blick kann nicht gelingen.
Roshi ist eine junge deutsche Schriftstellerin iranischer Herkunft, aus Köln, ganz wie ihre Autorin. Ihre paradoxe Doppelrolle im Roman illustriert Nava Ebrahimis großes Thema: die doppelte Identität, die Kölnerin und die Perserin, drinnen und draußen, dabei und nicht dabei. 16 Wörter, Ebrahimis Erstling, ist eine autobiografische Reflexion über Identität, über Sprache und Sprachen.
Nava Ebrahimis Figuren sind kaputt
In Das Paradies meines Nachbarn, dem zweiten Roman, entwickelt sich vor dem Hintergrund der Weltgeschichte ein großer tragischer Plot um einen deutsch-persischen Protagonisten. Mit ihrem dritten Roman bleibt die Bachmann-Preisträgerin von 2021 ihrem Thema zwar treu. Auch. Aber sie dreht es auf erhellende Weise weiter.
Ebrahimi führt uns, weit weg vom diversen Köln, in eine kleine, trostlose Welt, ins Emsland, eine katholische Enklave im ländlichen Niedersachsen, beherrscht von Nieselregen und einem riesigen Geflügelschlachtbetrieb. Einige ihrer Figuren kämpfen tatsächlich um die Identität.
Da ist Nassim, der afghanische Flüchtling, der nicht weiß, ob er sich bei der Asylbehörde als armer Verfolgter oder doch lieber als großer Dichter präsentieren soll. Dann ist da Justyna, Nassims polnische Haus- und Bettgenossin, als 24-Stunden-Pflegerin tätig, die ihre als Kind vertriebene Pflegebefohlene mal als nette alte Dame, mal als polenhassende Feindin wahrnimmt – und die nicht weiß, ob sie sich lieber als Polin mit dem deutschen Manager einlassen soll, mit Figur Nummer vier, oder als irgendwie Ausländerin mit Nassim, dem dichtenden Afghanen.
Aussortieren im Hamsterrad
Fronten gibt es keine. Alle müssen Federn lassen. Selbst Figur Nummer vier, Nassims Nebenbuhler, Führungskraft bei der Hühnerschlachterei und Emsländer durch und durch, ist qua Herkunft irgendwie auch Pole und auf der Suche nach einer Frau aus dem Osten, die nicht zu viele Ansprüche stellt. Mit der karrierebewussten deutschen Ingenieurin jedenfalls, die seine Abteilung rationalisieren soll, Figur Nummer fünf, kann er gar nicht. Niemand hat ihn so geprägt wie die polnische Oma. Das ist keine „Migrantenliteratur“ mehr. Das Diverse ist gerade das Deutsche.
Stolz auf seine zugeschriebene Eigenheit ist niemand. Unmerklich wandelt sich im Roman der Fokus, weg vom „Wer bin ich?“ auf den alle verbindenden Frust. Im Mittelpunkt des (nicht besonders) fiktiven Emslands steht groß und solide der mittelständisch-katholische Schlachtbetrieb, beständig in seinen Werten wie in seiner Wertschöpfung. Der Firma geht es gut.
Fabrikalltag ist meisterhaft geschildert
Nicht aber den dortigen Hühnern, weshalb sie eine „wooden breast“ entwickeln, eine hölzerne Brust, die wiederum für den Betrieb ein Problem ist, denn dann wird ihr Fleisch zäh und gummiartig.Nicht gut geht es auch den Arbeiterinnen, deren Job es ist, Hühnerbrüste abzutasten. Sonia, eine Zentralfigur des Romans, erträgt es nicht mehr, täglich acht Stunden Geflügelfleisch auszusortieren.
Als schlecht verdienende, alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes und einer pubertierenden Tochter sowie Enkelin der dementen Alten hat sie alle Kacke an der Backe, um es mal angemessen auszudrücken. Die Schilderung von Sonias Fabrikalltag ist ein Meisterstück an selten gewordener Literatur der Arbeitswelt.
Wenn sie in ihrer Wut die freche Tochter in ihr Zimmer einsperrt, zur Arbeit geht und den ganzen Tag nicht weiß, ob sie das Kind befreien muss und dabei ihren Job riskiert, überträgt der Stress sich eins zu eins auf den Leser. Am fantastischen Ende lassen alle ihre quälenden Rollen und Identitäten hinter sich und laufen los. Nur: Wohin? Ob der Roman gut ausgeht oder schlecht, das erfahren wir nicht.
Und Federn überall Nava Ebrahimi Luchterhand 2025, 352 S., 24 €