„Ich habe keine Angst, nachher China zu reisen“
Wir wollen den Indien-Anteil am Gesamterlös von Siemens massiv steigern. Doch es stimmt schon: Rund 18 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes kommen aktuell aus China. In diesem Markt sind wir extrem stark. Wenn man auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von Indien und China schaut, wird das Verhältnis klar: rund 2500 Dollar gegen rund 12.000 Dollar, bei gleicher Bevölkerungszahl.
Im Rückspiegel betrachtet hätte man vielleicht breiter investieren können. Doch die deutschen Premiumautohersteller zielen auf die Mittel- und Oberschicht. In dieser Hinsicht hat sich China eben viel schneller entwickelt, es gibt dort heute eine breite Mittelschicht von mehreren Hundert Millionen Menschen. In Indien ist die Zahl viel kleiner.
Haben sich die Konzerne von der Börse ins Risiko treiben lassen, weil die Aktionäre schnell hohe Gewinne sehen wollten?
Wenn Sie einen globalen Markt bedienen, dann gehen Sie natürlich dorthin, wo das größte Marktpotential ist.
Wann wird das größte Wachstum in Indien zu finden sein?
Indien holt auf. Das Land hat durch seine Investitionen in eine stabile Energieversorgung und in Infrastruktur die Grundlage dafür gelegt, dass jetzt auch mehr und mehr und hochwertigere Fertigung ins Land kommt. Zusätzlich drängen etwa zehn bis zwölf Millionen Menschen pro Jahr auf den indischen Arbeitsmarkt, es geht also auch darum, mehr Wertschöpfung ins Land zu bringen. Siemens hat jüngst einen Drei-Milliarden-Euro-Auftrag für Lokomotiven gewonnen. Wir beschäftigen 30.000 Menschen in Indien und betreiben über 30 Fabriken. Wir wachsen sehr schnell.
Würde Indien bei seiner Aufholjagd weiter auf Kohleenergie setzen, wäre das Weltklima nicht zu retten. Kriegt das Land die Energiewende hin?
Indien muss einen unglaublichen Energiebedarf stillen. Trotzdem werden in keinem Land mehr erneuerbare Energieträger installiert, das ist beeindruckend. Natürlich geht es nicht ohne Kohle, aber die Regierung tritt hier schon auf die Bremse. Das hat noch einen anderen Grund als den Klimaschutz: Mit jeder selbst produzierten Kilowattstunde erneuerbarer Energien reduziert Indien seine Abhängigkeit von Energieimporten.
Findet in der deutschen Wirtschaft eine Verlagerung von China nach Indien und Südostasien statt oder nicht?
Es geht nicht um eine Verlagerung. Wir brauchen ein „und“ und kein „oder“. Man sollte China nicht abschreiben. Es geht um Diversifizierung. Das heißt, neue Märkte zu erschließen, ohne die alten aufzugeben. Im asiatisch-pazifischen Raum lebt die Hälfte der Weltbevölkerung, die ihr Einkommen pro Kopf mehr und mehr steigert. In der Region steckt ein Riesenpotential.
Sind Deutsche überhaupt noch in China erwünscht? Jüngst landete ein ranghoher VW-Manager in Peking für zehn Tage im Gefängnis, weil er im Thailand-Urlaub Drogen konsumiert haben soll. War das ein politisches Signal?
Ich kenne die Hintergründe nicht. Ich glaube nicht, dass das ein Signal war. Ich habe auf jeden Fall keine Angst, nach China zu reisen.
Was machen Sie, wenn China und die USA bei einem militärischen Konflikt in Asien Länder wie Deutschland dazu zu zwingen versuchen, sich für eine Seite zu entscheiden?
Ich glaube nicht, dass dieser Konflikt eskaliert. Da hängt zu viel dran. Der Gesamtwert des US-Warenhandels mit China liegt bei rund 575 Milliarden Dollar. Es wird kein Auto produziert, wenn nicht eine Zulieferung aus China kommt. Und umgekehrt wird auch kein Auto produziert, wenn nicht eine Zulieferung aus den USA oder Europa kommt.
Haben Sie Sorgen, dass ein neuer Zollkrieg die Weltwirtschaft in den Abgrund reißt, wie der Internationale Währungsfonds warnt?
Wenn ein neuer Zoll-Wettlauf startet, dann wird es am Ende einfach nur teurer für alle. Das ist ja das Schöne an einer globalen vernetzten Welt, dass Sie davon profitieren, die besten Technologien zu den besten Preisen zu bekommen. Gilt diese Logik nicht mehr, schafft das auch politische Instabilität. Dann wird extrem gewählt. Das wollen wir alle nicht.
Die Stimmung in Deutschland ist jetzt schon im Keller. Hier in Delhi sprechen deutsche Manager vom Land als „Industriemuseum“, in dem man noch den Standort hat, aber nicht mehr investiert. Stimmt das Bild?
Das ist überzogen. Wir haben viele starke deutsche Firmen und Technologien. Auch im Mittelstand, mit tollen Menschen, die nach wie vor im Exportgeschäft sind. Das heißt, Deutschlands Technologie wird in der Welt nachgefragt. Richtig ist auch, dass wir Hausaufgaben zu machen haben. Ich habe vorhin über die Energiewende gesprochen. Ich glaube, dass wir klarmachen müssen, wo in Deutschland die Reise hingeht. Der Investitionsstau bei der Infrastruktur ist massiv. Außerdem brauchen wir gute Immigration und eine schnelle Integration der Menschen, die zu uns kommen, in den Arbeitsmarkt, als Antwort auf die Herausforderungen einer überalternden Gesellschaft.
Kanzler Scholz hat gestern gesagt, Deutschland wolle sich die Migranten, die kommen sollen, künftig aussuchen, ansonsten werde die Gesellschaft diese nicht mehr akzeptieren. Stimmen Sie zu?
Ich glaube, wir sollten Menschen mit Qualifikation ins Land holen, die etwas beitragen wollen und können. Damit meine ich nicht nur Ärzte oder Ingenieure. Sondern auch Servicepersonal, sei es in Krankenhäusern oder im Dienstleistungssektor. Menschen, die sich auch in unser Land und unser System integrieren und einen Beitrag leisten wollen.