Ibsen Award an Lola Arias: Die jüngste allgemeine Verunsicherung – WELT
Der alle zwei Jahre in Norwegen verliehene Ibsen Award gilt als „Nobelpreis des Theaters“. Nun wurde die Regisseurin Lola Arias ausgezeichnet. Mit dem Preis für ihr aktuelles Stück über die Freiheit in Javier Mileis Argentinien verbindet sie auch eine konkrete Hoffnung.
Das Leben ist eine Baustelle. Das gilt besonders, wenn man gerade aus der Haft entlassen wurde und wieder vorwärts zählt – die Tage in Freiheit, die in vielen Fällen gleichbedeutend sind mit den Tagen bis zur nächsten Verhaftung. So stehen die sechs argentinischen Protagonistinnen im Theaterstück „The Days Out There“ von Lola Arias treffend in einer Baugerüst-Kulisse, davor als Symbol der Freiheit ein Auto.
Jede sagt, wie lange sie draußen ist: Das Publikum im Nationaltheater von Oslo hört Zahlen zwischen 870 und 1460. Die vier Frauen und zwei Transmänner wirken dabei mit ihren Tattoos in ihrem herben Charme sehr authentisch. Kein Wunder, spielen sich doch hier sechs ehemalige Sträflinge selbst – in einer naturalistischen Schicksalsschau aus dem Argentinien des rechtspopulistischen Präsidenten Javier Milei.
Das Stück war in Frankreich, Spanien und in Deutschland zu sehen, unter anderem am Berliner Gorki Theater, wo es am 23. November 2024 erneut zwei Vorstellungen geben wird. Arias lebt seit zehn Jahren in der deutschen Hauptstadt, produziert seit mehr als 15 Jahren transatlantisch. Jetzt machte „The Days Out There“ Station in Oslo. Die Regisseurin, die das Thema ihres Kinofilms „Reas“ über weibliche Häftlinge im Knast mit sechs Darstellerinnen zu einer Revue nach der Entlassung – mit Musik und Tanz – weiterentwickelt hat, wurde für ihre Arbeit mit dem International Ibsen Award ausgezeichnet. Die alle zwei Jahre vom norwegischen Staat vergebene, durch eine Expertenjury verliehene und mit 2,5 Millionen Kronen (aktuell rund 220.000 Ero) dotierte Auszeichnung gilt als „Nobelpreis des Theaters“.
Alltag als Wiederaufführung
Die erst 48-jährige Preisträgerin folgt auf Ibsen-Preisträger wie Peter Brook, Christoph Marthaler und Jon Fosse. Seit 25 Jahren arbeitet Arias als Autorin, Theater- und Filmregisseurin, Musikerin, Installationskünstlerin und Schauspielerin und hat dabei ihre ganz eigene Art von Theater entwickelt. Es gelingt ihr, den Alltag ihrer Protagonisten aus deren Erzählungen zu rekonstruieren und als Re-Enactment, als Wieder-Spielhandlung auf die Bühne zu bringen – in einer Inszenierung mit Betroffenen, die dennoch den Gesetzen des fiktionalen Dramas folgt und sie spiegelt.
Darin, dass es weder eines Schauspielers noch eines Stücks etwa von Shakespeare bedürfe, „in diesem Sinne fühle ich eine starke Verbindung mit Peter Brook“, sagt Lola Arias im Gespräch mit WELT, „denn er war sowohl im Theater als auch im Film extrem experimentell, bei der Richtung, die seine Projekte nahmen, sehr offen für die Inspiration durch Menschen, Situationen, Orte oder Gruppen.“
Mit Ibsen sei das eine andere Geschichte, schließlich habe sie nie Dramen nach literarischen Vorlagen inszeniert, sondern stets eigene Projekte. Aber auch da gäbe es Nähe: Ibsens Stücke schärften und veränderten die Sichtweise. Ingrid Lorentzen, Nationalballett-Intendantin in Oslo und Jury-Vorsitzende, fasst es so: „Lola Arias Stücke erzählen nicht einfach, sondern wirken, wie Ibsens Dramen, als Mittel der Verunsicherung.“
Die Verunsicherung durchläuft das Publikum oft Jahre nachdem die Darsteller ihr Schicksal ereilte. Sie allesamt sind Überlebende kleinerer oder größerer Katastrophen. In ihrem Abend „The Year I Was Born” arbeitete Arias 2012 mit Chilenen, die ihrer Eltern Jugend in der Zeit der Pinochet-Diktatur nachspielten. Die Arbeit basierte auf den Erfahrungen von „My Life After“ (2009), in der Performer die Erfahrungen der Elterngeneration aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) auf die Bühne brachten. In den Kleidern der Eltern, beim Spiel mit ihren Erinnerungen, ihre Briefe lesend, machten sie die Vergangenheit lebendig.
Auf zwei Abende im Bremer Theater, mit Obdachlosen und bulgarischen Flüchtlingskindern, folgte die Trilogie „Minefields“. Drei britische und drei argentinische Veteranen des Falkland-Krieges, die in Schlachten aufeinander geschossen hatten, loteten auf der Bühne gemeinsame Perspektiven und unüberbrückbare Differenzen aus. „Mother Tongue“ befasste sich 2022 mit Perspektiven auf Mutterschaft. Ein kurzer Ausschnitt aus „Happy Nights“ aus Berlin, eine intime Ansprache des Publikums zum Thema Sexarbeit durch die Performerin River Roux, sorgte als Auftakt der Ibsen-Award-Zeremonie für ungeteilte Aufmerksamkeit im Nationaltheater.
In „The Days Out There“ erzählt sie nicht von der Gewalt in argentinischen Strafanstalten, wollte „nicht der Stigmatisierung der Frauen folgen, sondern zeigen, was an Hoffnung und Schönheit in ihnen steckt“, so Arias. Das ist ihr mithilfe der begabten Selbstdarsteller Yoseli Arias, Delfino Natal Delfino, Estefanía Hardcastle, Noelia Perez, Paulita Asturayme und Carla Canteros berührend gelungen. Dabei geht ihr Theater über Dokumentationstheater hinaus.
Die Regisseurin erzählt mit einem leidenschaftlichen Ton, den im deutschen Theater niemand trifft. Die Ex-Häftlinge schildern Vorgeschichten zur Verhaftung und wie sie schuldig oder unschuldig in den Knast wanderten, selbst von Anwälten noch betrogen, die sie verteidigen sollten. Dann geht es um Knasterfahrungen, die Tattoos, die Anbetung des Volksheiligen „Gauchito Gil“, im Gefängnis eine Art Unterwelt-Jesus, ein spiritueller Retter.
Workshops im Gefängnis
Es gibt Lieder und Gespräche über den Geschmack der Freiheit und darüber, welche Hindernisse sie mit Blick auf Wohnung, Arbeit oder die eigene Familie mit sich bringt. Aber es geht auch um die Chance, die der Job im Theater birgt. Schließlich sind Schauspieler richtige Bürger, haben Ausweise und Konten, eine Krankenversicherung. Die Tour mit „The Days Out There“, die beim Festival d’Avignon begann, wurde nach der Preisverleihung bis April 2025 verlängert – wo ein Gastspiel im Mousonturm in Frankfurt ansteht.
Arias ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Im Team arbeiten Ärzte und Anwälte, um die zum Teil traumatisierten Darsteller zu begleiten. Die Produktion des Films und des Theaterstücks bereitete die Regisseurin jahrelang vor. „Die ersten Workshops im Gefängnis habe ich in Argentinien 2019 gegeben“, erzählt sie, „in der Pandemie durfte ich die Arbeit drinnen nicht fortsetzen, also habe ich angefangen, mit Entlassenen zu arbeiten.“ Nach dem Filmdreh habe sie sechs der 14 Darstellerinnen gefragt, „die sich am stärksten engagiert hatten“, ob sie mit dem Theaterstück weitermachen wollten.
Der Ibsen-Preis bedeute ihr mit Blick auf die aktuelle Produktion sehr viel, ihre bei Weitem aufwändigste. Die Nachricht habe sie erreicht, als sie die Realisierung für aussichtslos hielt, erzählt sie. Der Preis sei kein Ego-Futter gewesen, sondern habe sie ermutigt, „Intendanten und Festivalleiter anzurufen, um ihnen zu sagen, dass die nächste Ibsen-Preisträgerin am Apparat ist und sie bitte das Stück mitfinanzieren sollten.“ 22 Co-Produzenten hatte sie zum Schluss.
„The Days Out There“, Gorki Theater, Berlin, Aufführungen am 23. November um 17 und 20 Uhr
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt vom International Ibsen Award. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit.
Source: welt.de