Hurrikan „Milton“: Was es heißt, sich c/o einem Wirbelsturm evakuieren zu lassen

Anfang der Woche, wenige Tage bevor laut Vorhersage der Hurrikan „Milton“ auf die Küstenstadt Tampa in Florida treffen sollte, richtete Bürgermeisterin Jane Castor eine eindringliche Warnung an die Bewohner der Evakuierungsgebiete: „Wenn Sie sich dafür entscheiden zu bleiben, werden Sie sterben.“ Aber ihr Zuhause zu verlassen, um einem Hurrikan, der zunächst der Kategorie 5 zugeordnet wurde, aus dem Weg zu gehen, ist nicht allen möglich. Wenn Menschen bei einem drohenden Unwetter trotz Warnung der Behörden nicht ihre Häuser verlassen, gäbe es normalerweise zwei Gründe, so Cara Cuite, Professorin für Human-Ökologie an der Rutgers University in New Jersey. Entweder sie glaubten nicht, dass sie in Gefahr sind, oder hielten die Gefahr für übertrieben. Oder aber ihre persönliche Situation hindere sie daran, sich in Sicherheit zu bringen.

Soziale Ungleichheit wird in einer Notstandssituation weiter verstärkt

Im Fall von Hurrikan „Milton“ ist die erste Gruppe laut Cara Cuite wahrscheinlich recht klein, da Bürgermeisterin Castor und andere vertrauenswürdige Amtsträger unmissverständlich auf die vermutlich schlimmen Folgen eines Bleibens hingewiesen hätten. Was die zweite Gruppe angeht, gäbe es enorme Herausforderungen, vor denen sie stehen könnten.

Nach einer Schätzung der US-Zentralbank Federal Reserve aus dem Jahr 2023 haben fast 40 Prozent der US-Amerikaner nicht das Geld für Notfallausgaben in Höhe von 400 US-Dollar in bar zur Verfügung. Eine Studie von 2021 ergab, dass Menschen, die während des damaligen Hurrikans „Harvey“ aus dem Texas Coastal Bend flohen, im Schnitt 1.200 Dollar für die Evakuierung ausgaben. Es war entschieden mehr, wenn sie in Hotels unterkommen mussten.

Um mit einem Privatauto zu fliehen, muss man in der Lage sein, für Benzin, ein Hotelzimmer, womöglich Hotelessen und andere notwendige Dinge zu bezahlen. Und, damit man sich überhaupt fortbewegen kann, über ein fahrtüchtiges Auto verfügen. Bei einer Evakuierung mit dem Flugzeug kommen zu den erwähnten Kosten die Ausgaben für ein Flugticket hinzu. Überdies muss ein Flughafen erreichbar sein. Einigen Fluggesellschaften wurde Preistreiberei vorgeworfen worden, als viele Leute versuchten, Florida zu verlassen. Andere Berichte besagen, dass Gesellschaften ihre Preise gedeckelt hätten. Wie die Autorin und Sozialwissenschaftlerin Cierra Chenier aus New Orleans vermerkt, wird soziale Ungleichheit in einer Notstandslage weiter verstärkt. „Jede sozioökonomische Ungleichheit, die im Alltag existiert, wird während einer Katastrophe noch größer. Es sind immer die verletzlichsten Communitys, die am meisten leiden.“

Sichere Unterkünfte vereinfachen Evakuierungen

Vor dem Hurrikan „Milton“ hat das Gesundheitsministerium von Florida fast 600 Fahrzeuge zur Unterstützung von Evakuierungen bereitgestellt. Die Behörde für Notfallmanagement bietet kostenlose Evakuierungsshuttles zu Notunterkünften an. Aber sehr viele davon, besonders Hotels und Apartments, in die Einwohner von Florida normalerweise bei einer Sturmdrohung fliehen, sind noch wegen des Hurrikans „Helene“ von Ende September voll besetzt.

Wenn Menschen keinen feststehenden Ort haben, von dem sie wissen, dass sie dort nach einer Evakuierung unterkommen, kann sie das davon abhalten, ein bedrohtes Gebiet zu verlassen, sagt Stacy Willet, Professorin für Notfall-Management und Heimatsicherheit an der University of Akron. „Eine Evakuierung durch Einladung ist einer der wirkungsvollsten Wege, Menschen zur Evakuierung zu bewegen“, meint sie. „Wenn sie einen Ort haben, an den sie gehen können, wenn sie wissen, dass sie eine Unterkunft in einer sicheren Zone haben – dann gehen sie auch. Manchmal reicht es, eine Person im Katastrophengebiet zu empfehlen, um jemanden dadurch zu veranlassen, früher loszufahren.“

Aber es gibt nicht wenige, die eine Unterbringung ohne ein Netzwerk der Unterstützung aus Familie und Freunden organisieren müssen. Und wenn die Unterkünfte in einer vertretbaren Entfernung überfüllt sind, müssen sie entweder extreme Distanzen in Kauf nehmen oder einfach versuchen, den Sturm am Ort zu überstehen.

„Wie sieht es aus, mit dem Recht der Leute auf ihre Häuser und auf Rückkehr?“

Für körperlich leistungsfähige Menschen stehen die besonderen Bedürfnisse behinderter oder kranker Menschen während einer Evakuierung gewiss nicht im Vordergrund. Aber wer behindert oder krank ist, dem ist es oft unmöglich, sein Zuhause zu verlassen, geschweige denn irgendwohin zu reisen. „Keinen zugänglichen Evakuierungsort oder kein Fahrzeug zu haben, das macht die Sache besonders schwierig“, erklärt Cuite. „Man muss dann eine Transporthilfe finden, bei der ein Rollstuhl oder anderes Equipment kein Problem ist, das man wegen seiner Behinderung braucht. Diese Aspekte können sich gegenseitig verstärken, wenn mehrere zusammenkommen.“

Manche Notunterkünfte nehmen auch keine Haustiere auf, und jene, die es anders halten, beschränken oft Anzahl und Art der geduldeten Tiere. Aus diesem Grund bleiben viele Tierhalter zurück und vermeiden die Evakuierung. „Manchmal bleiben die Leute, um ihr Haus zu schützen oder ihre Tiere, die sie nicht mitnehmen können“, so Cuite. „In ländlichen Gegenden geht es in der Regel nicht um Haustiere, sondern um Nutztiere. Die Leute halten es für ihre Verantwortung, dazubleiben und sich um ihren Tierbestand zu kümmern.“

Vor dem Hurrikan „Katrina“ verließen im August 2005 im US-Bundesstaat Louisiana geschätzt anderthalb Millionen Menschen ihre Häuser und Wohnungen. Viele von ihnen konnten später nicht zurückkehren. Für manche, besondere diejenigen, die schon einmal die Vertreibung durch eine Naturkatastrophe erlebt haben, reicht allein die Angst, wegzugehen und nicht wieder zurückkehren zu können oder nach der Rückkehr nichts mehr vorzufinden, für die Entscheidung lieber zu versuchen, den Hurrikan an Ort und Stelle zu überstehen.

„Es ist großartig, wenn man in Busladungen viele Menschen sehr schnell aus der gefährdeten Region bringen kann. Aber wer weiß, wie die Sache für sie ausgeht, etwa wenn sie von ihren Familien getrennt werden, was – wie wir wissen – vorkommt? Außerdem stellt sich die Frage, wie lange sie wegbleiben müssen“, erklärt Cierra Chenier. „Wichtig ist daher die Strategie für danach. Wie sieht es aus, mit dem Recht der Leute auf ihre Häuser und auf Rückkehr?“