Humboldt-Universität: Nach den propalästinensischen Besetzungen

Das Bild der linken, bunten, naiv-jungen Studierenden in Berlin bekommt wohl einen neuen Anstrich verpasst: „From the river to the sea“-Parolen, Hamas-verherrlichendes Graffiti und „Intifada“-Rufe lassen die hafermilchtrinkenden Studis plötzlich autoritär, aggressiv und angstschürend wirken. Das hat Folgen, auch für die Stimmung an der Humboldt-Universität selbst, wo gerade die Wahlen zum Studierendenparlament stattfanden. Hier studieren oder promovieren aktuell rund 36.000 junge Menschen. An der Besetzung des sozialwissenschaftlichen Instituts aus Protest gegen den Gaza-Krieg waren 150 Personen aktiv beteiligt. Wie sieht die Stimmung auf dem Campus jetzt aus, ein Monat nach der Besetzung und plötzlichen Berühmtheit?

Der Ausnahmezustand ist noch immer spürbar. Meine Dozentin kündigte etwa an, unser Seminar im Falle einer Störung durch propalästinensische Aktivist*innen abzubrechen – wir, die Studierenden, könnten dann selbst entscheiden, ob wir mitprotestieren oder gehen wollten. Meine Kommiliton*innen wirkten nicht sonderlich beeindruckt, steckten ihre Nase in die Bücher und niemand fragt nach. Nach dem Seminar erzählt die Dozentin mir, die Lehrenden hätten eine Rundmail vom Präsidium erhalten, in der auf die Möglichkeit „externer Störungen des Lehrbetriebs“ hingewiesen sowie sich auf die „Grundwerte des fachlichen Austauschs“ berufen wurde. Sie fühle sich nicht dafür ausgebildet, „diese Form von politischer Debatte“ zu führen.

Die lauten Stimmen der „free palestine“-Skandierenden in den Besetzungstagen waren auch in das Büro meiner Dozentin gedrungen und in Kombination mit Begriffen wie „Eskalation“ fühle sie sich zunehmend „eingeschüchtert“. „Ich meine, wir gehen alle mit offenen Augen durch die Welt“, sagt die Literaturwissenschaftlerin im Gespräch unter vier Augen, „aber als Lehrende bin ich zur politischen Neutralität verpflichtet und würde im Grunde einen Rechtsbruch begehen, wenn ich mich derartig positionieren würde, wie es aktuell verlangt wird“.

Dabei sind die Polizeiwagen, die noch im Mai vor der Mensa patrouillierten, verschwunden. Es gab ein paar Demos gegen die Polizeigewalt gegen Studierende auf dem Campus, die massiv war – das sagen durchweg alle, mit denen ich gesprochen habe. Bei der vom Bündnis „Hands Off Students Rights“ organisierten Demonstration in der Universitätsstraße wurde jedoch nicht nur auf das Recht auf Versammlungsfreiheit gepocht, Sorge macht auch ein Paragraf im Berliner Hochschulgesetz. Dieser erlaubt Exmatrikulationen als Sanktionsmaßnahme: Jemand, der „den Hochschulbetrieb schwer stört“, könnte demnach des Studiums verwiesen werden. Der Paragraf war in Berlin unter Rot-Rot-Grün 2021 abgeschafft und von der CDU im März 2024 wieder eingeführt worden. Die Sorge, dass er politisch aktive Studierende treffen könnte – die etwa bei der Besetzung beteiligt waren – ist jetzt groß. Werden bald Aktivist*innen exmatrikuliert?

Nachwirkungen auf dem Campus

Spürbare Veränderungen hinterlassen die Proteste am Institut der Sozialwissenschaften in Berlin-Mitte. Die üblichen Räume sind seit Wochen gesperrt, weil sie im Zuge der Besetzung und der polizeilichen Räumung stark beschädigt wurden. Die Renovierungskosten belaufen sich auf über 150.000 Euro, die Seminare finden vorübergehend an anderen Berliner Universitäten statt, teils in ganz anderen Stadtteilen.

Ruhe ist indes keine eingekehrt. Im Juni haben Unbekannte über Nacht das rote Hamas-Dreieck, das von den Besetzer*innen noch bei einer Pressekonferenz im Mai als friedliches Widerstandssymbol gewertet wurde, an die Außenwand gesprüht. Über dem Dreieck steht: „HU“ (kurz für Humboldt-Uni). Auf X (ehemals Twitter) kursieren Fotos weiterer Dreiecke in Uni-Nähe, unter ihnen prangen „Julia“ und die Drohung „Kai will pay“. Erstere Drohung bezieht sich wohl auf HU-Präsidentin Julia von Blumenthal, zweitere auf den regierenden Bürgermeister Kai Wegner, der eine vorschnelle Räumung anordnete, und damit die ursprüngliche Abmachung mit der Unileitung womöglich ignorierte.

Die Initiativen „Student Coalition Berlin“ und „Decolonise HU“ riefen auf Instagram am 10. Juni zu einer „Jabalia disruption week“ auf, einer Störwoche des Uni- und Lehrbetriebs. Jabalia, das ist der Name des größten Flüchtlingscamps in Gaza, dessen Infrastruktur den Bombardierungen der israelischen Armee im Mai zum Opfer fiel. Die Protestierenden hatten das sozialwissenschaftliche Institut bereits in „Jabalia Institute“ umbenannt.

Die „Jabalia disruption week“ allerdings dürfte an den meisten vorbeigegangen sein, wenn sie sich nicht gerade in den Filterblasen der Aktivist*innen herumtreiben. Auf denen wurden im Rahmen der Woche Panels und Filmdemonstrationen angekündigt, ein Programmpunkt: „people’s school for palestine“, bei dem sich mit dem verstorbenen Schriftsteller und Sprecher der terroristischen Volksfront zur Befreiung Palästinas Ghassan Kanafani auseinandergesetzt werden sollte. Neben diesem Kulturprogramm wurde aber auch erneut zu einer expliziten Störung des Unibetriebes aufgerufen. Daraufhin erschienen an der sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät die Schriftzüge „Decolonise HU“ und „Gaza bleeds“ – schon am nächsten Morgen wurden sie mit Seife entfernt.

Aktionen gegen Rechts

Der Gaza-Krieg ist nicht das einzige politische Weltgeschehen, das die Studierenden und Lehrenden aufwühlt. Auch die „Studis gegen Rechts“ sind auf Plakaten überall sichtbar. Neben Veranstaltungen wie „Der historische Faschismus und seine Erben“, „Gender und Nationalismus“ oder „Linke Strategien gegen Rechts“ stehen kollektives Bannermalen und ein „Dosenwerfen gegen den Faschismus“ auf ihrem Programm. Das gefällt nicht allen Studierenden. Dustin Müller, Vorsitzender des Rings Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) an der HU, spricht im Interview mit dem rechtskonservativen Blatt Nius in gewohnt wichtigtuerischem Sound von einem „öffentlich finanzierten Agitations- und Indoktrinationsprogramm“. „Gewaltbereite Linksextreme, Kommunisten und Judenhasser“ gehörten nicht an die Hochschule, sondern „höchstens auf die Anklagebank“. Er kritisiert insbesondere, dass die Aktionswoche zu Teilen vom „Refrat“, dem Allgemeinen Studierendenausschuss der HU, gefördert wurde.

Das war Wahlkampf-Geplänkel: An der HU wurde am 18. und 19. Juni ein neues Studierendenparlament gewählt. Angetreten ist auch die „International Youth and Students for Social Equality“ (IYSSE), die sich in ihrem Programm gegen den „Genozid in Gaza“ und gegen „Kriegspropaganda“ ausspricht – sie konnte ihre Sitze von zwei auf fünf steigern. Die Liberalen und der RCDS legten leicht zu. Mit 19 von insgesamt 60 Sitzen gewann allerdings – wie schon im letzten Jahr – die „Linke Liste“.