Humanitäre Lage in Gaza: Winter in Trümmern

Vor zwei Wochen haben sich Israel und die Hamas nach mühsamer Vermittlung vor allem durch die USA, die Türkei und einige arabische Staaten auf einen Waffenstillstand geeinigt. Zwar gab es seitdem schon wieder vereinzelte Gefechte, doch bislang hält die Feuerpause im Großen und Ganzen.

Unklar ist, wie es mit dem Gazastreifen weitergehen soll. Viele Fragen rund um den von den USA vorgeschlagenen 20-Punkte-Plan sind noch unbeantwortet. Etwa, wer die Sicherheit in der Region garantieren und wer Gaza zukünftig regieren soll. Darüber wird weiter verhandelt, US-Vizepräsident JD Vance reiste dafür in dieser Woche nach Israel.

Jenseits dieser eher langfristigen Perspektiven brauchen die Menschen im Gazastreifen vor allem kurzfristige Hilfe. Die humanitäre Lage in dem besetzten Gebiet ist eine der prekärsten weltweit. Zwar sieht das Waffenstillstandsabkommen vor, dass ab sofort wieder Hilfen in die Region gelassen werden, doch diese reichen bislang nicht aus. Am Mittwoch forderte der Internationale Gerichtshof in Den Haag Israel dazu auf, die grundlegende Versorgung der Zivilbevölkerung in Gaza zu gewährleisten.


Humanitäre Lage in Gaza: Palästinenser kehren wenige Tage nach dem Waffenstillstand zurück nach Gaza-Stadt.

Palästinenser kehren wenige Tage nach dem Waffenstillstand zurück nach Gaza-Stadt.

Das Ausmaß der Zerstörung

Bis das gelingt, wird es noch dauern. „Gaza wird in absehbarer Zukunft in einer sehr schwierigen, tragischen Lage bleiben“, sagt Tania Hary von Gisha, einer israelischen Organisation, die sich seit 20 Jahren mit Zugangsbeschränkungen und der Durchsetzung internationalen Rechts in Gaza beschäftigt. In zwei Jahren Krieg, der durch die Terrorangriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober ausgelöst wurde, haben Hilfsorganisationen immer wieder von einem beispiellosen Ausmaß der Zerstörung in Gaza gesprochen: Der Großteil der Infrastruktur ist flächendeckend beschädigt, Strom- und Wasserzufuhr sind kaum vorhanden, das Gesundheitssystem liegt in Trümmern, Bildungseinrichtungen funktionieren seit zwei Jahren gar nicht mehr. Internationale Nothelfende, die Jahrzehnte in Kriegsgebieten wie Syrien, dem Irak oder Sudan gearbeitet haben, berichteten von dystopischen Zuständen.

„Schon vor diesem Krieg litt die Bevölkerung von Gaza durch die israelische Blockade an chronischem Mangel vitaler Ressourcen“, sagt Hary. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung lebten zumindest in Teilen von humanitärer Hilfe, die grundlegende Versorgung mit Wasser und Strom war bereits mangelhaft. Mit Beginn des Krieges hat Israel die Strom- und Wasserzufuhr nahezu vollständig gekappt. Nun sind nach jüngsten Einschätzungen der Vereinten Nationen etwa 80 Prozent der Infrastruktur im Gazastreifen beschädigt oder zerstört, ebenso ein großer Teil der Wasser- und Stromnetze. Laut Recherchen des ZDF sollen israelische Soldaten noch kurz vor ihrem Abzug eine Kläranlage in Brand gesteckt haben, die zum Teil mit deutschen Fördergeldern gebaut worden war.


Humanitäre Lage in Gaza: Die Wasserversorgung in Gaza ist zerstört. Die Menschen sind auf Kanister angewiesen.

Die Wasserversorgung in Gaza ist zerstört. Die Menschen sind auf Kanister angewiesen.


Humanitäre Lage in Gaza: Zelte und Nahrung: Lkw bringen die wichtigsten Güter ins Konfliktgebiet.

Zelte und Nahrung: Lkw bringen die wichtigsten Güter ins Konfliktgebiet.


Humanitäre Lage in Gaza: Es kommen wieder mehr Hilfsgüter nach Gaza rein – doch offenbar noch immer nicht genug.

Es kommen wieder mehr Hilfsgüter nach Gaza rein – doch offenbar noch immer nicht genug.

Daneben sind auch in der Landwirtschaft, der Lebensmittelproduktion und in der Fischerei enorme Schäden entstanden, berichtet Hary. Selbst wenn das komplette Ausmaß noch gar nicht erfasst sei, werde schon jetzt klar, dass die Menschen in Gaza sich in den nächsten Jahren nur sehr eingeschränkt selbst versorgen können. Umso wichtiger sind Hilfslieferungen, die, sagt Hary, auch weiterhin ein Druckmittel für die israelische Regierung in Verhandlungen bleiben. Erst im August erklärten internationale Organisationen eine Hungersnot in Gaza, die sich bis heute auf die Menschen auswirkt. 

Zwischen Toten und Blindgängern

Bevor an einen nachhaltigen Wiederaufbau zu denken ist, müssen in Gaza die Trümmer beseitigt werden. Von bis zu 60 Millionen Tonnen Schutt ist die Rede. In dieser Woche hat das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) mit den Aufräumarbeiten begonnen. 

Die Arbeit wird im Wesentlichen durch zwei Faktoren verkompliziert. Zum einen liegen unter den Trümmern noch Leichen, die bisher nicht geborgen werden konnten. Darunter nicht nur die noch verbliebenen toten israelischen Geiseln der Hamas, sondern auch zahlreiche der nach Angaben der Vereinten Nationen und des von der Hamas geführten Gesundheitsministeriums in Gaza mehr als 68.000 getöteten Palästinenser, Tausende Vermisste werden in den Trümmern vermutet. 


Humanitäre Lage in Gaza: Studieren im Flüchtlingslager: Für viele Menschen in Gaza ist der Notstand längst normaler Alltag.

Studieren im Flüchtlingslager: Für viele Menschen in Gaza ist der Notstand längst normaler Alltag.


Humanitäre Lage in Gaza: Ein Zeltlager auf dem Campus der Universität von Chan Junis

Ein Zeltlager auf dem Campus der Universität von Chan Junis


Humanitäre Lage in Gaza: 60 Millionen Tonnen Schutt müssten aus Gaza weggeräumt werden.

60 Millionen Tonnen Schutt müssten aus Gaza weggeräumt werden.

Zum anderen ist Gaza voll von Blindgängern. Das erschwert nicht nur den Wiederaufbau, sondern bedeutet eine anhaltende Gefahr für die Menschen in dem dicht besiedelten Gebiet. „Wir können davon ausgehen, dass etwa zehn Prozent der eingesetzten Munition und Bomben nicht explodieren und weiterhin eine Gefahr sind“, sagt der Sprengstoffexperte Greg Crowther, Direktor der Mines Advisory Group, im Gespräch mit der ZEIT. Er war zwischen 2008 und 2010 in Koordination mit den Vereinten Nationen an der Beseitigung von etwa 300 Blindgängern beteiligt – nach einem Krieg in Gaza, der nur wenige Wochen dauerte und in dem weit weniger Waffen eingesetzt wurden.

Wie viel Munition und Bomben die israelische Armee in diesem Krieg eingesetzt hat, ist nicht genau bekannt. Paul Rogers von der Universität Bradford, ein Experte für internationale Beziehungen, schätzt, dass insgesamt etwa 70.000 Tonnen Sprengstoff auf Gaza abgeworfen wurden — auf einer Fläche vergleichbar mit Bremen. Am Montag hatte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu verkündet, Israel habe nach Anschuldigungen von Hamas-Angriffen in Rafah allein nach Inkrafttreten der Waffenruhe 153 Tonnen Bomben in Gaza abgeworfen. Experten schätzen, dass die Räumung des Streifens 20 bis 30 Jahre dauern könne. 

Leben in Trümmern

Bis zum Beginn der Waffenruhe waren nach Schätzungen etwa 90 Prozent der Bevölkerung in Gaza zwangsvertrieben worden. Das betrifft etwa 1,9 Millionen Menschen. Die israelische Armee hatte diese Menschen auf einem Gebiet von etwa 55 Quadratkilometern im mittleren Gazastreifen konzentriert. Nach Angaben der Vereinten Nationen versuchten seitdem etwa 533.000 Menschen, in ihr Zuhause zurückzukehren. Doch Berichte aus den letzten Tagen zeigen: Viele von ihnen sind zu Trümmern zurückgekehrt.

Solange der Schutt nicht abgetragen ist und die Blindgänger nicht geräumt sind, wird es in Gaza keinen nennenswerten Wiederaufbau von Häusern geben. Für die Palästinenserinnen und Palästinenser bedeutet das, sie werden größtenteils in Zelten unterkommen müssen. Internationale Hilfsorganisationen bemühen sich derzeit, genug davon in den Gazastreifen zu bekommen. Doch auch diese Flüchtlingslager brauchen Platz, und mit einigen Planen ist es nicht getan. Solche improvisierten Städte brauchen ausreichend sanitäre Einrichtungen wie Latrinen, sie brauchen Zugang zu Wasser, Generatoren für die Stromversorgung, Gas zum Kochen. 


Humanitäre Lage in Gaza: Noch immer ist ein Großteil der Menschen in Gaza mangelernährt.

Noch immer ist ein Großteil der Menschen in Gaza mangelernährt.

Kurz nach dem Waffenstillstandsabkommen hatten die Vereinten Nationen einen 60-Tage-Plan vorgestellt, um die Bevölkerung mit dem Allernötigsten zu versorgen. Dieser Plan wäre allerdings nur unter idealen Bedingungen umsetzbar. Diese sind bislang nicht erfüllt, der Zugang in Rafah ist weiterhin geschlossen, die zugelassene Hilfe bleibt weiterhin unter den im Abkommen geforderten 600 Lastwagenladungen

„Wir sind noch Wochen, wenn nicht Monate davon entfernt, auch nur die grundlegendsten Bedürfnisse zu erfüllen“, sagt Sarah Davies, Sprecherin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (ICRC) in Jerusalem. Wie lange es dauern wird, bis überhaupt von Wiederaufbau gesprochen werden kann, hänge auch davon ab, inwieweit humanitäre Organisationen und Akteure in der Lage sind, alle Menschen in Gaza, die Hilfe benötigen, mit den erforderlichen Hilfsgütern zu versorgen.


Humanitäre Lage in Gaza: Ein Palästinenser baut sich eine Unterkunft auf. Viele in dem Küstenstreifen wurden während des Krieges mehrfach vertrieben.

Ein Palästinenser baut sich eine Unterkunft auf. Viele in dem Küstenstreifen wurden während des Krieges mehrfach vertrieben.

Kälte und Krankheiten

Doch die Zeit drängt, zumindest die Grundversorgung der Menschen wiederherzustellen. Der Winter naht, er wird das Leben in Gaza zusätzlich erschweren. Einerseits durch die Kälte, andererseits, weil er die prekären sanitären Bedingungen verschlechtert. Seit zwei Jahren gibt es keine Müllverarbeitung und Abwassermanagement, kaum grundlegende sanitäre Einrichtungen. Mit den starken Regenfällen, das hat sich schon in den vergangenen zwei Wintern gezeigt, verschlechtert sich die Hygiene. Viele Menschen auf engem Raum, die mangelernährt oder vorerkrankt sind, dazu die harschen Wetterbedingungen und die schlechten hygienischen Möglichkeiten – das alles sind Risikotreiber für Krankheiten, die sich auch noch schnell weiterverbreiten. 


Humanitäre Lage in Gaza: Improvisiertes Kochen: Es wird Jahre dauern, bis der Gazastreifen wieder aufgebaut sein wird – vorausgesetzt, die Waffenruhe hält.

Improvisiertes Kochen: Es wird Jahre dauern, bis der Gazastreifen wieder aufgebaut sein wird – vorausgesetzt, die Waffenruhe hält.

Diese Gefahr trifft auf ein Gesundheitssystem, das nahezu vollständig kollabiert ist. Kein einziges Krankenhaus in Gaza ist mehr voll einsatzfähig, ein Großteil komplett zerstört. Ähnliches gilt für Gesundheitszentren und Arztpraxen. Es fehlt an Medizin, Verbandszeug und OP-Besteck. Nach Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums sind bislang über 170.000 Menschen verletzt worden, auch diese Menschen müssten dringend versorgt werden. 

Ungewisse Zukunft

Die nächsten Wochen und Monate in Gaza werden geprägt sein von Schuttbeseitigung und minimaler Erstversorgung. Den größten Teil der Arbeit werden wohl Hilfsorganisationen wie das ICRC und die Vereinten Nationen übernehmen. Das kann allerdings nur kurzfristig eine Lösung sein. Langfristig hängt die Zukunft Gazas von den Ressourcen ab, die international bereitgestellt werden, in Form von Geldern und in Form von Friedenstruppen. Und vom politischen Willen der Konfliktparteien, sagt Sarah Davies vom ICRC, auch kurzfristig, denn von ihnen hängt ab, ob die Waffenruhe hält. 


Humanitäre Lage in Gaza: Nach Verkündung der Waffenruhe sind Hunderttausende Palästinenser zurückgekehrt zu dem, was einmal ihre Häuser waren.

Nach Verkündung der Waffenruhe sind Hunderttausende Palästinenser zurückgekehrt zu dem, was einmal ihre Häuser waren.