„Homöopathische Dosen“ – Ausländer nutzen Fachkräfteeinwanderung bisher nicht wie erwartet
Das deutsche Einwanderungsrecht zählt zu den liberalsten der Welt – trotzdem kommen nur vergleichsweise wenige Arbeitskräfte nach Deutschland, wie eine Antwort der Bundesregierung zeigt. Die Grünen kritisieren „ständige migrationsfeindlichen Debatten“ und fordern „eine echte Willkommenskultur“.
Neulich forderte der Kanzler arbeitswillige Ausländer auf, nach Deutschland zu ziehen. „Wir wollen Menschen aus aller Herren Länder gewinnen, die nach Deutschland kommen und bereit sind, hier zu arbeiten“, sagte Friedrich Merz (CDU) beim Handelskongress Deutschland. Mit den Arbeitskräften im Land werde man nicht auskommen. „Wir brauchen auch qualifizierte Zuwanderung.“
Neueste Daten seines Innenministeriums zeigen nun, dass hier noch Luft nach oben besteht. Zwar kommen weiterhin Tausende Ausländer pro Monat über das Asyl- und Fluchtsystem in Deutschland an – doch der geregelte Zuzug von Arbeitskräften außerhalb der EU bleibt unter den Erwartungen.
Die Zahlen bleiben hinter den Erwartungen zurück
Abgefragt haben die Daten die Grünen im Bundestag. Sie hatten 2023 gemeinsam mit SPD und FDP die gesetzlichen Hürden für die Erwerbsmigration deutlich gesenkt – das deutsche Einwanderungsrecht zählt seitdem zu den liberalsten der Welt. Nun wollte die Fraktion wissen, wie gut die Maßnahmen wirken. Die Antwort der Bundesregierung liegt WELT vor.
Demnach stieg zwar die Zahl der Nicht-EU-Ausländer, die in sogenannten Engpassberufen arbeiten, in den letzten Monaten deutlich an. „Zu Jahresbeginn 2024 arbeiteten rund 690.000 Drittstaatsangehörige in Engpassberufen. Bis April 2025 stieg diese Zahl kontinuierlich auf über 790.000“, teilte das Ministerium den Grünen mit. In solchen Bereichen schaffen es Firmen nicht, ihre offenen Stellen mit heimischen Arbeitskräften zu besetzen.
Allerdings dürften unter den 100.000 Ausländern in Engpassberufen auch viele Ukrainer sein, die zunächst als Flüchtlinge kamen und inzwischen einen Job gefunden haben. Unklar ist weitgehend, wie viele Erwerbsmigranten regulär aus dem Ausland zuzogen, um einen entsprechenden Job zu ergreifen. Die Zahl der erteilten Visa zeigt jedenfalls keinen Boom.
So ging die Anzahl der ausgegebenen Titel an hochqualifizierte Fachkräfte in den letzten Monaten sogar zurück. Wurden im Oktober 2024 noch 1050 nationale Visa nach Paragraf 18g des Aufenthaltsgesetzes ausgegeben, waren es im Oktober 2025 nur noch 776. Entsprechende Titel – auch als „Blaue Karte EU“ bezeichnet, können Fachkräfte mit Hochschulabschluss aus dem Nicht-EU-Ausland erhalten, wenn sie eine qualifizierte Beschäftigung in Deutschland aufnehmen.
Auch nicht-Akademische Fachkräfte scheinen nicht gerade nach Deutschland zu strömen. Eher verhalten wird bislang die Möglichkeit der sogenannten Erfahrungssäule angenommen. Sie wurde 2023 geschaffen, um qualifizierten Personen den Zuzug nach Deutschland zu ermöglichen, ohne dass ihr im Ausland erhaltener Berufsabschluss in Deutschland anerkannt werden muss. Seit März 2024 sind die entsprechenden Regelungen in Kraft. Insgesamt wurden von März 2024 bis November 2025 838 Visa im Rahmen der Erfahrungssäule an ausländische Arbeitskräfte erteilt, pro Monat nie mehr als 70.
Schließlich wird auch die sogenannte Chancen-Karte, ein zentrales Projekt der Ampel-Koalition, bisher nicht so angenommen, wie erwartet. Mit dem Titel können Ausländer zur Arbeitsplatzsuche einreisen, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen. 17.489 entsprechende Titel wurden von Juni 2024 bis November 2025 erteilt, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort schreibt. Das sind deutlich mehr als in den anderen Kategorien. Anvisiert hatte die damalige Ampel-Koalition allerdings rund 30.000 Chancenkarten pro Jahr.
Neben den Titel gibt es noch weitere Möglichkeiten zur Einreise für Erwerbsmigranten: 2024 stellten die Behörden insgesamt 172.422 sogenannte nationale Visa zu Erwerbszwecken aus. Offen bleibt allerdings, wie viele Menschen mit einem solchen Visum tatsächlich nach Deutschland einreisen.
„Für eine erfolgreiche Fachkräfteeinwanderung reicht es nicht, nur die gesetzlichen Grundlagen zu ändern“, sagt Lamya Kaddor, Berichterstatterin der Grünen-Bundestagsfraktion für Fachkräfteeinwanderung, WELT. Die niedrigen Zahlen bei der Erfahrungssäule zeigten das deutlich. „Es braucht eine echte Willkommenskultur, ein klares Bekenntnis zur Einwanderung und die aktive Bewerbung der neuen Möglichkeiten im Ausland.“
Die Bundesregierung sendet völlig falsche Signale
Genau daran scheitere aber die Bundesregierung, sagt Kaddor. „Sie bewirbt die vielfältigen Zugangswege kaum und sendet mit ständigen migrationsfeindlichen Debatten das völlig falsche Signal.“ Während die Chancen-Karte große Aufmerksamkeit erzeugt habe, fehle es bei anderen Wegen der Erwerbsmigration an Sichtbarkeit und Bewusstsein. „Da darf es niemanden überraschen, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb als Einwanderungsland kaum attraktiv wirkt und die Zahlen niedrig bleiben.“
Herbert Brücker, Leiter des Forschungsbereichs Migration am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hatte die Entwicklung bereits im September kritisiert. „Im Jahr 2024 hatten wir 1,7 Millionen Zuzüge. Wenn im selben Zeitraum nur wenige Tausend Chancenkarten zur Erwerbsmigration ausgegeben wurden, dann sind das homöopathische Dosen, auch wenn die Einreisen zur Arbeitssuche gestiegen sind“, sagte er damals WELT AM SONNTAG.
„Das ist ein Alarmsignal, weil es zeigt, dass wir trotz mehrerer Reformen des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes nicht in der Lage sind, den Zuzug von Erwerbsmigranten deutlich zu erhöhen.“ Zwar könne man die Wirkung der Reform noch nicht abschließend beurteilen, sagt Brücker. „Die Zahlen deuten aber darauf hin, dass sie keine strukturelle Änderung ausgelöst haben.“
Die Bundesregierung möchte nun eine sogenannte „Work-and-Stay-Agentur“ schaffen – eine zentrale Anlaufstelle für ausländische Arbeitskräfte und inländische Arbeitgeber, mit der der ganze Prozess der Einwanderung vereinfacht werden soll. „Diese Work-and-Stay-Agentur ist das wahrscheinlich größte Digitalprojekt, das wir uns für die laufende Wahlperiode vorgenommen haben“, sagte Kanzler Merz. „Denn dahinter steht die komplette Neuordnung der Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt.“
Allerdings scheint es mit der Umsetzung noch etwas zu dauern. Gerade hat die Bundesregierung Eckpunkte dazu verabschiedet. In der Antwort an die Grünen schreibt das Innenministerium nun, dass die Ausschreibung für die wichtigsten IT-Komponenten im Jahr 2026 erfolgen solle. Grünen-Politikerin Kaddor sagt dazu: „Angesichts der bekannten Langwierigkeit öffentlicher Vergabeverfahren ist realistisch davon auszugehen, dass die Work-and-Stay-Agentur in dieser Legislaturperiode nicht mehr realisiert wird.“
Ricarda Breyton schreibt seit vielen Jahren über Migrationspolitik und rechtspolitische Themen.
Source: welt.de