Historikerin Victoria de Grazia: „Mein Gott, wer ist dieser Faschist?“
Er, Attilio Teruzzi, ist überzeugter Faschist und Weggefährte von Mussolini. Sie, Lilliana Weinman, eine jüdische Opernsängerin aus New York. Die Historikerin Victoria de Grazia hat nicht nur die Geschichte dieser ungewöhnlichen Liebesbeziehung in ihrem Buch Der perfekte Faschist niedergeschrieben, sondern dabei auch eine Analyse über die Verbreitung des Faschismus im 20. Jahrhundert verfasst. Im Interview erzählt sie, was sie an Weinmans Dokumenten erschütterte und weshalb der Begriff Faschismus heute zu inflationär benutzt wird.
der Freitag: Frau de Grazia, Ihr Buch „Der perfekte Faschist“ handelt von der eher ungewöhnlichen, kontroversen Liebe und Ehe der jüdischen Opernsängerin Lilliana Weinman und des engagierten italienischen Faschisten Attilio Teruzzi. Wie sind Sie beiden begegnet?
Victoria de Grazia: Basierend auf meiner bisherigen Beschäftigung mit dem Faschismus wollte ich diese Figur des Faschisten als Mann durchdringen – sein Leiden und seine Widersprüche begreifen. Ich fragte mich: Wie nutzen diese „starken Männer“ Macht? Wie stehen sie zu anderen Männern? Wie zu Frauen? Wie bewältigen sie die Komplexität ihres Lebens zwischen öffentlicher Pflicht, Gewalt, Privatleben, Verführung und Liebe? Zufällig kontaktierte mich eine Familie aus New York, einer der Angehörigen sagte: „Ich habe diese Taschen voller Dokumente von unserer entfernten Cousine Lilliana, die mit einem großen Faschisten verheiratet war.“ Ich dachte nur: „Interessant, ich kann ihnen sicherlich Rat geben, was sie damit machen können.“ Aber als ich die Einkaufstaschen durchwühlte, fand ich drei Dinge, die mich erschütterten: Zunächst fanden sich unzählige Fotografien der italienischen Armee, die zeigen, wie sie Libyer unterdrückte. Dazu kam dieser neunseitige Brief: Ein Liebesbrief oder ein Hassbrief jenes Faschisten, der diese Frau, Lilliana, verleugnete. Und dann gab es Bände von Prozessakten – Annullierungsverfahren der katholischen Kirche. Also fragte ich mich: Mein Gott, wer ist dieser Faschist? Ein älterer Mann mit auffälligem Bart und strenger Haltung – eine Figur, die ich zuvor nicht kannte: Attilio Teruzzi.
Sie beschreiben Teruzzi als den „perfekten Faschisten“. Was sagt uns seine Biografie über die Geschichte des Faschismus? Warum gerade er?
Teruzzi war ein guter Soldat, nicht herausragend, aber pflichtbewusst. Generäle hatten ihn gern als Adjutanten und auch Mussolini mochte ihn: Militärisch geschickt, listig, ruhig, loyal, ein gut aussehender Armeemann – nach den Maßstäben seiner Zeit. Um diesen kleinen aalglatten Mann zu fassen und ihm Leben einzuhauchen, musste ich eine Geschichte über den Faschismus als System der Ordnung und Gewalt erzählen. Teruzzi war wie ein Abdruck, ein negatives Signifikat: Er musste kontextualisiert werden, um ihn verständlich zu machen und durch ihn die Bedeutung des Systems.
Woran machen Sie das fest?
Als ich zum ersten Mal die Fotografien von ihm sah, sah ich nur Kriege – immer wieder, also fragte ich mich: Wie viele Jahre waren Teruzzi und mit ihm der Faschismus eigentlich nicht im Krieg? Die Kriege gegen die muslimischen Sanūsīya-Aufständischen in Libyen dauerten fast die gesamte Zeit der faschistischen Herrschaft an. Sie endeten erst 1931 mit der Vernichtung von gut 90.000 der 180.000 Beduinen von Cyrenaika. Von 1935 bis 1939 unterstützte das faschistische Italien General Franco bei seinem Coup und half ihm, die Zweite Spanische Republik militärisch zu schlagen. Dazu der zweite koloniale Eroberungsfeldzug in Äthiopien ab 1935 und der Angriff in Albanien, der 1939 erfolgte. Am Ende gab es vielleicht zwei Jahre ohne Krieg – und Teruzzi hatte schon vor dem Faschismus in Libyen gekämpft. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, wie imperialistisch der Faschismus zu Beginn war – innen wie außen. Dies wurde in der Geschichtsschreibung oft vernachlässigt. Das zweite Beispiel ist die Komplexität der Machtbeziehungen in Italien.
Was zeichnete sie aus?
Der Faschismus war in gewisser Weise eine Koalition, die sich immer wieder gegen sich selbst durchsetzen musste – so wie alle italienischen Regierungen. Er musste mit der katholischen Kirche umgehen und ganz klar: mit Nazideutschland. So kann man an Teruzzis Aktionen sehen, wie sich diese Koalition im Laufe der Zeit veränderte. Sein Opportunismus, der sich dann regte, wenn die Macht zu fassen war, seine Beziehung zu Gewalt und Verführung, Gewalt und Überzeugung, oder um es anders auszudrücken: Unordnung und Ordnung. Teruzzi war ein Mann der Zwiespältigkeit: Trug er seine Uniform, dann liebte er impulsive Gewalt. Bei seinen Frauen war er liebenswert und verletzlich.
Ihr Buch liest sich wie ein historischer Roman. Es ist voller scheinbar zufälliger Details, die sich langsam, aber sicher zu einer bestimmten Wahrnehmung des Faschismus, seiner Charaktere und seiner historischen Existenz zusammenfügen. Warum diese erzählerische Form?
Mein Gefühl ist, dass wir gegenwärtig sehr von Flüchtigkeit, von starken Emotionen und kurzlebigem Funkenflug ergriffen sind. So fällt es schwer, Machtstrukturen wirklich zu erkennen. Grund dafür ist auch ein mangelnder Sinn für Zeitlichkeit – für Vergangenheit. Unsere Begriffe wie Faschismus oder sogar die Namen seiner Diktatoren – Mussolini und Hitler – haben keine Tiefe. Sie werden benutzt, um das Flüchtige, die Hassrede, zynische Prahlerei, sexistische Sprüche, Korruption und vor allem amoralisches Verhalten zu beschreiben. Belästigung ist amoralisch, Genozid ist amoralisch – es handelt sich um eine große Vermengung. Ich habe versucht, den moralischen Kompass dieser Epoche darzustellen. Außerdem wollte ich zeigen, welche Gewalt, welche bedeutenden Veränderungen in der Struktur der Macht zu Verwirrungen und Verschiebungen in der Moral führen. Das Gefühlsleben des liberalen Regimes zu erfassen und zu sehen, wie es durch Menschen, freiwillig oder unfreiwillig, durch ihr Liebes- wie auch Familienleben und durch ihr Denken über andere transformiert wird. Das ist wichtig, um die Instrumentalisierung der Moral durch Macht zu verstehen.
Und heute? Ob es sich um russische Propaganda handelt, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine als Akt des Antifaschismus darstellt, oder um die wiederkehrenden Debatten darüber, ob autoritäre Führer wie Trump, Meloni oder Orbán echte Faschisten sind – können wir den Begriff Faschismus immer noch verwenden, um zeitgenössische Politik zu beschreiben?
Ich werde oft dem Lager zugeordnet, das sich eine limitierte Verwendung des Begriffs Faschismus wünscht, besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch in Italien. Ich denke, dass die vorschnelle Verwendung tiefgreifende Unterschiede zwischen den Zeiten verschleiert. Wir müssen verstehen, dass der Faschismus und viele andere Bewegungen aus diesem enormen Zusammenbruch des klassischen Liberalismus als politisches und wirtschaftliches System in Folge des Ersten Weltkriegs entstanden sind. Ich meine den Niedergang Großbritanniens und Europas. Gleichzeitig sollten wir verstehen, dass in den letzten 30 Jahren die amerikanische Hegemonie ins Wanken geraten ist, ebenso die Möglichkeit, dass die Europäische Union in der Lage sein könnte, dies auszugleichen. Jetzt könnten daraus aber verschiedene Bewegungen entstehen. In den 1920er-Jahren hätte man gesagt: „Nun, es muss nicht der Faschismus sein.“ Es könnte auch ein neuer Sozialismus entstehen, eine neue liberale Demokratie. Warum versteifen wir uns auf die Wiederkehr des Faschismus im Trumpismus?
Also ist Trumpismus kein Faschismus, obwohl die systemischen Brüche vergleichbar sind?
Die Verwendung des Begriffs Faschismus ignoriert oft seine Ursachen. Der Begriff fängt nur flüchtige Beobachtungen ein. Trump hat ein hässliches Gesicht, das hatte Hitler auch. Trump lügt, das hat Hitler auch getan. Trump hasst Frauen, wie Mussolini und Hitler auch. Der Begriff verhindert, dass auf die Machtstrukturen geschaut wird, die dahinter liegen. Damit verhindert er ein komplexes Krisenverständnis, was allerdings notwendig ist, um bessere Lösungen zu finden als jene, die Faschisten bieten. Für mich ist das Ablenkung, ein Resultat einer demokratischen Oligarchie, die die Wahrnehmung komplexer Machtbeziehungen reduziert, um sich selbst aufrechtzuerhalten. Zumindest in den USA, einem konservativen Staat, der auch deshalb kompliziert ist, weil er lokale und föderale Autoritäten vereint. Hinzu kommen Exekutivbehörden, die sich in einem seltsamen Justizsystem gegenseitig ausspielen. Das alles als Faschismus zu bezeichnen, führt zu Missverständnissen. Trump selbst weiß, wie verführerisch dieser Begriff ist.
Zur Person
Victoria de Grazia (1946 in Chicago geboren) ist Professorin Emerita für europäische Geschichte an der Columbia University in New York. Die Originalfassung von Der perfekte Faschist erhielt 2021 den Scaglione Prize der Modern Language Association