Hier lockt Teneriffa mit Einsamkeit und Stille

Gibt es auf der Ferieninsel, die unter Overtourism ächzt, noch nicht überlaufene Ecken? Ja! Sie zu finden, ist schwierig, aber nicht unmöglich – und Wandern eine gute Option. Dabei kommt es darauf an, die richtigen Routen zu wählen, aber auch auf ein wenig Glück.
Im Kiefernforst hängt der Klang der Stille. Die einzigen Laute, die man hört, sind die Schritte der kleinen Wandergruppe auf dem Wanderweg „PR TF 43.1“, der sich von San José de los Llanos durch Teneriffas westliches Vulkanbergland windet. Die Gegend ist abgeschieden. Kein Motorengeräusch dringt heran. Niemand redet. Sonnenstrahlen brechen sich in den Zweigen. Steine tragen Beläge aus Moos.
Hier, auf über tausend Höhenmetern, füllen sich die Lungen mit frischer Luft. Und die Seele erfreut sich am Lärmfasten. Ohne Verkehr, weit weg von den touristischen Ballungsräumen. Erst nach einer halben Stunde passiert es: Zwei Wanderer kommen entgegen. Niemand traut sich, die Ruhe zu durchbrechen. Wir tauschen einen wortlosen Gruß.
Wer auf Teneriffa, der meistbesuchten Kanareninsel, Winkel erkunden will, die nicht überlaufen sind, muss ein Grundgebot befolgen: sich von den Stränden und Hotelkästen im Süden fernhalten, die Masca-Schlucht und den Tierpark „Loro Parque“ ausklammern, in der Inselmitte auf den Nationalpark um den Teide verzichten, auch wenn es mit 3715 Metern Spaniens höchster Berg ist und das Wahrzeichen der kanarischen Vulkaninsel.
Unlängst war Wanderführer Arndt Morawe mit einem Gast im Gipfelbereich unterwegs – und schockiert: „Wir hatten eine Genehmigung für das Zeitfenster des Sonnenaufgangs. Außer uns wären noch 48 Leute erlaubt gewesen, insgesamt 50. Aber es waren bestimmt 250 oben. Den Zugang kontrolliert offenbar niemand.“
Solche Zahlen sind auf Teneriffa nur die Spitze des Eisbergs. 2024 dürften wohl 7,2 Millionen Besucher gekommen sein – eine Rekordmarke. Das führt zur Frage: Wo und wie findet man überhaupt noch ursprüngliche Flecken? Die Antwort lautet: im Hinterland und dort, wo nicht so oft die Sonne scheint. Zum Beispiel auf dem erwähnten „PR TF 43.1“. Der Wanderweg führt durch weitgehend unberührte Natur, und es braucht eine gewisse Kondition, um ihn zu gehen. Das schreckt viele Besucher ab, die sich im Urlaub lieber nicht anstrengen wollen.
Wandern zu Vulkanen und durch Lorbeerwälder
Nach dem Anstieg durch Kiefernwälder öffnet sich knapp drei Kilometer hinter San José de los Llanos ein Freistück vor dem Vulkan Arenas Negras. In der Einsamkeit buckelt sich der kahle Berg auf, Lavaschwarz mischt sich mit Himmelblau. 1706 brach der Vulkan aus und schickte seine vernichtenden Ströme hinab an die Nordküste nach Garachico. Heute knirscht die körnige Vulkanasche unter den Schuhsohlen. In der Ferne lugt der schneebedeckte Teide zwischen ein paar Wolken hindurch. Außer einem weiteren Wanderpaar kommt uns auf diesem Abschnitt niemand entgegen.
Erst eine halbe Marschstunde später – dort, wo der Pfad auf den Sechs-Kilometer-Rundweg um den Vulkan Chinyero stößt – sind ein paar mehr Leute unterwegs. Letztlich werden wir auf der Tageswanderung keine vier Dutzend Wanderer zählen. Und das ist sogar noch viel, denn der Löwenanteil entfällt heute auf lärmende Schüler auf Klassenausflug, die wir überholen. Kaum ist die Gruppe außer Sichtweite, ist außer Vogelgezwitscher nichts zu hören.
Die Suche nach dem authentischen Teneriffa hängt von Route und Tagesglück ab. Das ist auch am nächsten Wandertag so, diesmal im Nordosten im Anaga-Gebirge, den man am besten mit Guides wie Arndt Morawe erkundet, der seit zwei Jahrzehnten auf der Insel lebt. Der 50-Jährige weiß, auf welchen Pfaden wenig los ist und was hoffnungslos überlaufen ist. Zum Beispiel das idyllische alte Landstraßenstück zum Pico del Inglés: „Zuerst erschien ein Foto im Magazin ‚National Geographic‘, dann der Post eines bekannten Instagramers“, klagt Morawe, „damit war das Schicksal als touristische Pilgerstätte besiegelt.“
Inzwischen sind unzählige Bilder von der malerischen Passage zum Pico del Inglés in sozialen Medien zu finden. Morawe hat hier auch schon „eine leicht bekleidete Dame oben ohne auf der Motorhaube eines Cabrios posierend“ gesehen. Er hat nicht mehr als ein Kopfschütteln übrig für Urlauber, „die nur deshalb irgendwo hinfahren und Fotos knipsen, weil schon andere Leute vor ihnen dort waren und Bilder gepostet haben.“ Heute ist, wie üblich, am Abzweig zum Pico alles zugeparkt. Einige Ausflügler haben das Autoradio voll aufgedreht und tanzen auf dem Asphalt.
Zum Glück kennt Morawe die Wege, auf denen man im Anaga-Gebirge den Schalter auf ungetrübte Natur umlegen und sich in einen Rausch der Begeisterung wandern kann. Durch Lorbeerwälder, wo Flechten wie Greisenbärte von den Bäumen herabhängen, wo mannshohe Farne an die Pfade wuchern. Kommt Nebel auf, ist das mystische Erlebnis perfekt – sofern der Nebel sich verzieht und nicht in strömenden Regen übergeht. Doch damit muss man rechnen, die Bergwelt hier fungiert als Klimaschranke zwischen dem feuchten Norden und dem trockenen Süden, wo viel länger die Sonne scheint und wo sich die Touristenhotels mit ihren All-you-can-eat-Buffets ballen.
Traditionelle Küche in kleinen Orten auf dem Land
Teneriffas traditionelle Gasthauskultur hat sich in der Inselmitte und im Norden erfreulicherweise erhalten: Diese Lokale heißen Guachinche, vergleichbar mit einer Straußenwirtschaft in Deutschland. Ausgeschenkt wird lokaler Wein, aufgetischt wird rustikale Inselküche zu unschlagbaren Preisen. Zum Beispiel im Guachinche des höchstgelegenen Inseldorfes Vilaflor de Chasna.
Der hauseigene Weiße und Rote wird hier in Halbliterkrügen serviert für 4,40 Euro. Es sind schlichte Landweine, nichts für feine Gaumen, aber ausgesprochen süffig. Dazu passen gebratener Ziegenkäse, der Eintopf Ropa vieja mit Kichererbsen und Huhn, eine Portion „Zerbrochene Eier“ (Huevos rotos) mit Pommes, Schinken, Avocado. Zum Schluss darf der Barraquito nicht fehlen, im Glas in mehreren Schichten zubereitet: süße Kondensmilch, Likör, Espresso, aufgeschäumte Milch mit Zimt.
Ist so ein Guachinche authentisches Teneriffa, ein Stück Alltag? „Prinzipiell ja“, sagt Wanderführer Morawe, „doch es wandelt sich langsam. Früher war die Bedienung die Speisekarte. Da wurde gesagt: Heute haben wir dies und das, davon hat man sich dann etwas ausgesucht. Es gab nichts Geschriebenes, man musste Spanisch können, um zu kommunizieren. Jetzt gibt es teilweise schon Speisekarten in anderen Sprachen.“
Tipps in Reiseblogs und auf Portalen wie Tripadvisor befeuern den Wandel, der neugierige Touristen in die Landgasthöfe lockt. Auch der Guachinche in Vilaflor de Chasna ist von diesem Spagat zwischen Tradition und Neuausrichtung betroffen: Es liegt eine Karte auf Englisch aus. Die Mehrheit der Gäste sind aber Einheimische, und über die wenigen auswärtigen Besucher freut sich die Bedienung erkennbar – nicht zuletzt, weil sie mehr Geld (und Trinkgeld) in die Kasse spülen.
Und das können viele Einheimische auf Teneriffa gebrauchen. Denn sie verdienen nicht viel, weshalb es 2024 vereinzelt zu Demonstrationen gegen Overtourism gekommen ist. Die einen skandierten „Dieser Strand ist unserer“, andere machten unter dem Slogan „Die Kanaren sind nicht zu verkaufen“ ihrem Unmut gegen Investoren aus dem Ausland Luft.
„Die Proteste richten sich eigentlich nicht gegen die Touristen“, sagt Insider Morawe, sondern gegen die ungerechte Verteilung der Einnahmen. Er erklärt es so: „Auf der einen Seite wird den Leuten gesagt: Der Tourismus ist eure Einkommensquelle. Aber sie verdienen oft nur 1000 Euro im Monat bei einer 40-Stunden-Woche, zum Beispiel im Hotel oder Restaurant. Manche Leute auf Teneriffa leben mittlerweile in Wohnmobilen, weil sie sich keine Wohnung mehr leisten können, obwohl sie eine volle Stelle haben. Das macht natürlich sauer, denn der Tourismus bringt Geld, aber nur für relativ wenige.“
Strände wie im Süden von Teneriffa gibt es nicht
Eine, die zeigt, wie man mit Eigeninitiative etwas vom Touristenkuchen abbekommt, ist Adriana Petkov. Die gebürtige Australierin hat in die Familie des traditionellen Käseproduzenten Montesdeoca eingeheiratet. Und bietet seit April 2024 englischsprachige Führungen über den Ziegenhof im südwestlichen Küstenhinterland für 20 Euro an, Verkostung inklusive. Für acht Euro zusätzlich serviert sie passenden Wein. „Bislang kommen etwa zehn Besucher pro Tag“, sagt sie. Das sei überschaubar, mache wenig zusätzliche Arbeit, vermittle Gästen Traditionen und bringe dem Hof direkte Einnahmen.
Bei so einer Führung erfährt man zum Beispiel, dass die Käserei Dutzende Preise eingeheimst hat, dass alles in Handarbeit produziert wird und die Ziegenbutter reißenden Absatz unter Gourmet-Chefs findet. „Außerdem sind unsere Tiere happy“, sagt die 45-Jährige, „sie bekommen auch mal einheimische Bananen als Futter, haben Sex und sind draußen.“ Petkov plant bereits die Eröffnung einer Bar, von der man bei Wein und Käse hinüberschauen kann zur Nachbarinsel La Gomera.
Teneriffas Bananen schmecken nicht nur den Ziegen, sie sind eine lokale Delikatesse: kleiner und aromatischer als die Importware, die in Deutschland verkauft wird. Man sollte sie vor Ort unbedingt probieren – frisch, frittiert, als Marmelade, als Likör. Angebaut werden die Früchte vor allem im Inselnorden, wo die jährliche Niederschlagsmenge das Fünffache des Regens im Süden beträgt. Entlang der Nordküste gedeihen Bananenpalmen auf unendlichen Terrassen.
Sandstrände wie im Süden gibt es im Norden nicht – das dämmt den touristischen Zulauf automatisch ein. Kleine Städte wie Los Silos oder Garachico aus dem 15. Jahrhundert haben ihren beschaulichen Charakter bis heute erhalten, Nightlife und Beach Bars sucht man hier vergebens. Wer im Meer baden will, muss mit Leitereinstiegen an der zerklüfteten Lavaküste vorliebnehmen.
Auch hier ist das Hinterland angenehm leer. Hinter Los Silos werfen sich höckerige Berge auf. Der dortige Wanderweg „PR TF 53“ führt durch die üppig bewachsene Schlucht von Cuevas Negras und zum malerischen Dorf La Tierra del Trigo, 550 Meter hoch gelegen. Ein Kraftakt mit steilen Passagen, der sich wegen der wunderbaren Ausblicke aufs Meer aber unbedingt lohnt.
Trotz des Traumpanoramas sind heute keine zehn Wanderer auf der Acht-Kilometer-Strecke auf Achse. Instagram-Fans scheuen offenbar die Anstrengung – unter dem Hashtag #latierradeltrigo finden sich weniger als 100 Einträge. Von unserer Gruppe wird kein einziger dazukommen.
Tipps und Informationen:
Anreise: Nonstopflüge von diversen deutschen Städten bieten zum Beispiel Easyjet, Ryanair, Condor, TUIfly oder Eurowings zum Airport Teneriffa-Süd.
Unterkunft: Hotel „Luz del Mar“ in Los Silos, moderne, küstennahe Anlage mit großem Pool am Fuße des Teno-Gebirges, Doppelzimmer ab 168 Euro, luzdelmar.de. „Finca La Hacienda“ im Bergdorf Tierra del Trigo, Apartment für zwei Personen ab 68 Euro, fincalahacienda.com.
Wanderreisen: Wikinger Reisen bietet verschiedene Wandertouren, darunter die Zehn-Tage-Reise „Vulkane, Wälder, Küstenpanoramen“ durch den Inselnorden, ab 1848 Euro inklusive Flug, wikinger-reisen.de. Eine Acht-Tage-Kombitour nach Teneriffa und La Gomera ist buchbar bei Asi Reisen, ab 945 Euro ohne Flug, asi-reisen.de. Geführte Tageswanderungen haben Isla activa (islactiva.com) und Wanderjule im Programm, ab 59 Euro (wanderjule.com).
Weitere Auskünfte: visittenerife.es; spain.info
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Wikinger Reisen. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter go2.as/unabhaengigkeit.
Source: welt.de