„Hier blieb was auch immer zu. Die Leute nach sich ziehen Angst, von ihrer Arbeit zu erzählen“

Was unter der Berliner Grumbkowstraße liegt, wissen nur wenige. Dieses Areal war jahrzehntelang ein blinder Fleck auf der Karte Ost-Berlins. Hier lag eine Garagenanlage der DDR-Volkspolizei, offiziell „Kfz-Stelle“ genannt. Doch die Mauern verbergen viel mehr.

Die Berliner Grumbkowstraße, gelegen irgendwo zwischen den quirligen Gewerbehöfen Pankows und dem abgenutzten Grün einer Kleingartenkolonie, verbirgt ein Gedächtnis aus dunklem Beton. Wer heute über das Gelände am Rand der Buchholzer Straße geht, sieht Alltag: Lackierereien in ehemaligen Garagen, Plattenbauten, die wie Relikte aus besser geplanten Tagen wirken. Was unter den Sohlen liegt, wissen nur wenige. Es ist eine Geschichte, die sich erst im Frühjahr 2025 eröffnet, als ein Zeitzeuge den Schlüssel für die tiefste Kammer des Ostens bringt: die unterirdische „Raumschießanlage“ der DDR-Volkspolizei.

Dieses Areal war jahrzehntelang ein blinder Fleck auf der Karte Ost-Berlins. Hier lag eine Garagenanlage der Volkspolizei in Pankow, offiziell „Kfz-Stelle“ genannt. Nach der Wiedervereinigung wurde das Grundstück aufgeteilt, Firma reihte sich an Betrieb, als hätte es nie einen anderen Zweck gehabt. Doch die Mauern verbergen viel mehr. Unter dem Plattenbau, in den Schatten der Verwaltung, liegt ein Luftschutzbunker vom Typ BW-300, typisch für den DDR-Ingenieursbau der 1960er-Jahre. Mit sechs Trockentoiletten für Männer und Frauen, Belüftungsanlage und Wiegetisch. Alles gebaut für den Moment, in dem Weltgeschichte über Nacht das Überleben entscheidet.

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Wer sich heute durch den Hof tastet, findet mehrere Gullydeckel. Einer davon, verborgen unter Laub und Spinnweben, führt nicht wie erwartet in die Kanalisation, sondern in einen Tunnel. Am Ende dieses engen Gangstücks liegt, geschützt durch eine Druckplatte, der Zugang zum Notausgang des Bunkers. Im Licht der Taschenlampe taucht die Markierung „Dir 1 ÖS 14 Wachpolizei“ auf. Diese Dienststelle nutzte die Liegenschaft und den Plattenbau darauf nach dem Mauerfall weiter, bis 1994. Alles, was tiefer lag, wurde vergessen und versiegelt.

Bernd M., der Zeitzeuge, arbeitete hier mehr als dreißig Jahre. Was er erzählt, ist keine Legende, sondern Gedächtnis, das sich gegen das Verschwinden sträubt. „Die Schießanlage war das Herzstück – unter dem Grünstreifen, der von den alten Kleingärten übrig blieb, immer parallel zur Grumbkowstraße.“ Sie wurde ausgebaggert, ausgebaut, gewartet – und nach der Wende wieder verfüllt und abgedeckt, als wäre sie nie da gewesen. Über der Wiese standen einst Tischtennisplatten, Sport und Tarnung in einem. Dann überwucherte alles ein kleines Waldstück, wurden die Schächte mit Müll und Erde verfüllt. Die DDR war verschwunden, ihr Untergrund vergessen.

Der Zweck der Anlage war Training von Spezialeinheiten, Personenschützern und Staatseskorte. Hier übten Männer, deren Beruf aus Loyalität im Schatten der Macht bestand. An den Türen haftet Schimmel aus Jahrzehnten Stillstand. Bernd M. kennt die Gänge, erinnert sich an routinierte Angst – hier wurden Listen geführt, Schießleistungen protokolliert, Munition geprüft und verteilt. Wer in diesen Räumen war, trat nicht als Held hervor, sondern als Teil einer verschlossenen Maschine.

Nach der Wende sollte die Schießanlage verschwinden. Aber die Natur ist gründlicher als jede Verwaltung. Feuchtigkeit drang ein, Rost fraß die Stahlarmierungen, Decken wurden butterweich, aus Eimern wurde faulende Notdurft im Trockentoilettenstil. Die Wände sind heute überzogen von Pilzen und Spinnweben, der Putz quillt in den Ecken. Kein Sanierungsplan, kein Nachnutzungskonzept griff hier mehr – zu sehr war die Vergessenheit inzwischen Teil des Ortes. Die Besitzer wechselten, Verwaltungen zahlten Mieten, doch unter allem blieb der Bunker, ein Zeitkapselstück aus einer abgewickelten Republik.

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Im Empfangsbereich der ehemaligen Direktion stehen noch Telefone, Weiterleitungsgeräte, Tonerkartuschen, Überbleibsel einer Bürokratie, der die Zeit abhanden kam. Auf einer Scheibe ist „Wachpolizei“ zu lesen, daneben die Ecke zur Sicherung der Dienstwaffe. Wer über die Treppen in den Keller steigt, erkennt: Dies hier sind Standardtüren aus Sicherheitsblech, das Licht der Straße dringt blass in den Flur. In der Raumschießanlage riecht es nach Erde und altem Holz, das Echo bleibt auf den Gangspuren von Gestern.

In den vergangenen Monaten hat der Pankower Heimatforscher Christian Bormann Grundrisse gezeichnet, Zeitzeugen befragt, Videoaufnahmen im Bunker gemacht, den Fund dokumentiert für die Chronik seines Heimatbezirkes. „Wir dachten, nach der Wende würde alles offengelegt, erforscht, erklärt werden“, sagt der 45-Jährige, der 2018 durch die Entdeckung eines vergessenen Teils der Berliner Mauer von 1961 bekannt wurde: „Aber hier blieb alles zu. Die Leute haben Angst, von ihrer Arbeit zu erzählen. Man trifft noch heute auf ehemalige Vorgesetzte im Supermarkt.“ Die Schießanlage ist ein Anker für das Untergründige Berlins. Kein Schauplatz spektakulärer Fluchtgeschichte, dafür umso mehr ein Denkmal für Routine, Schweigen, das System der Macht im Schatten.

Wer heute in die Schießanlage hinabsteigt, geht durch Spuren, die von Kontrolle und Training, Verwaltung und Notstand erzählen. Die Luft ist modrig, das Wasser steht, doch die Architektur ist intakt genug, um zu begreifen: Hier wurde gedient, geübt, im Verborgenen gehalten – bis nichts mehr gebraucht wurde.

Die unterirdische Schießanlage der Volkspolizei entlang der Grumbkowstraße ist ein stilles Relikt untergegangener DDR-Infrastruktur. Erst dreißig Jahre nach ihrer Schließung taucht ihre Geschichte wieder auf, als hätte die Stadt einen Moment innegehalten, um ihr Gedächtnis zu prüfen. Während oben Gewerbe und Alltag laufen, bleibt unten eine Welt aus Beton, Stahl, rostigen Eimern und stillgestandenen Jahrzehnten. Ein Berliner Dunkel, das anderes erzählt als Denkmale an der Oberfläche – und im Licht der Vergessenheit eine der letzten großen Geschichten des tiefen Ostens bietet.

Source: welt.de