Herbstwetter: Braun sind schon die Wälder
Es gibt ein paar traurigschöne
Liedzeilen des (Ost-)Berliner Liedermachers Hans-Eckardt Wenzel, die an einem
Tag wie heute besonders nahegehen, als Vorgefühl und Melancholiebeschleuniger.
Deutschlandweit – und zumindest in Berlin und Umgebung nach einer neuerlichen
vierwöchigen Dürrephase – kippt nun der Hochsommer recht rüde in den Herbst. Dessen
Stimmung hat der, den seine Fans nur Wenzel nennen, ziemlich perfekt
eingefangen:
„Feinslieb, nun ist das
Blätterbraun
schon wieder in den Spitzen,
wann wir unterm Kastanienbaum
am Abend fröstelnd sitzen …“
Das Problem ist, dass man in
Zeiten des Klimawandels überhaupt nicht mehr weiß, wann man dieses Herbstlied aus den frühen 1980ern noch singen sollte. Die Kastanien sind seit Wochen
braun, den für die Miniermotte perfekten klimatischen Bedingungen sei Dank oder
Undank. Auch andere Bäume haben zuletzt verzweifelt ihre sich kräuselnden
Blätter von sich geworfen, es ist grundsätzlich zu heiß, es fehlt an Wasser, an
regelmäßigem und verwertbarem Niederschlag. Manche werden im nächsten Jahr
wieder austreiben, andere nicht, andere nur in Teilen. Schön ist das alles nicht, auch
nicht im Herbst. Was vorher schon verdorrt ist, erstrahlt später auch nicht in
allen Farben.
Wer angesichts dieser Umstände eine größere und umfassendere Melancholie
empfindet als angesichts der Tatsache, dass die Vorboten des Herbstes nun endlich
da sind, kann sich einigermaßen sicher sein, dass seine Emotionen nicht breit
geteilt werden. Der Herbst ist leider unbeliebt im Alltag. Eltern beklagen ihre fortan wieder unpraktischeren
Lebensbedingungen zwischen nassem Regenzeug und engen Wohnungen, bald jagen auch
die ersten Erkältungswellen durchs Land, und
die will wirklich keiner. Der Sommer, so wird Herbstliebhabern vorgerechnet, ist die
deutlich sozialere Jahreszeit, er bietet allen etwas, umsonst und draußen. Und selbst Biologinnen werden sagen, dass „verzweifelt“ ja nun überhaupt
kein passendes Wort für das ist, was die Bäume bei Sommerhitze mit ihren Blättern tun,
bevor deren eigentliche Zeit gekommen ist. Wurzeldruck und Kapillarkräfte
kennen keinen Schmerz, Wasser ist da oder nicht.
Wer den Sommer nicht mindestens schicksalsergeben
erträgt und die aufziehende Dunkelheit nicht pflichtbewusst bejammert, wird
einsam sein im Alltagsgespräch. Er wird beim Bäcker vorsichtig irritierte
Blicke ernten, wenn er dem allgemeinen „Jetzt kommt das schlechte Wetter“ ein
„Ja, endlich“ entgegenschleudert. Und er wird anderswo belehrt werden über die
psychisch negativen Effekte von Dämmerlicht und Drinnensein, über Suizidraten
und Einsamkeit. Es ist so in den Köpfen, seit alter Zeit, als das Ganze aber auch
landwirtschaftlich noch Sinn ergab: Schönes Wetter ist schön, schlechtes Wetter
ist schlecht. Man betet vor dem Winter um Gnade und begrüßt das Frühjahr
fröhlich.
Doch merkwürdig ist nicht der
klimasensible Mensch, dem der Sommer psychische Schmerzen zufügt – durch den zu
dieser Jahreszeit besonders sichtbaren Niedergang der heimatlichen Landschaft. Merkwürdig ist die deutsche Gegenwart, in der eine 30 Grad warme erste Septemberwoche
angesichts eines eher wechselhaften Julis inzwischen als „ist doch normal“ durchgeht. Und
annähernd psychotisch ist, wie die Gesellschaft auf mögliche Risiken und Nebenwirkungen der wachsenden Wärme (nicht) reagiert. Immerhin haben
ja auch Hitze und Trockenheit – wie Kälte und Dunkelheit – äußerst konkrete negative Auswirkungen, und zwar
nicht nur auf die pflanzliche Natur. Auch sie fordern Tote, auch sie sind in
Armut und engen Wohnungen schwerer zu ertragen als am oberen Ende der sozialen
Leiter.
Jammern wir mal nicht!
Aber während der soziale
Gerechtigkeitsimpuls in Bezug auf die dunkle Jahreszeit und ihre Nebenwirkungen
einigermaßen kanonisiert ist, bleibt diese Dimension in Bezug auf Hitze (noch)
abstraktes Wissen. Nur wenige spüren diesen Schmerz. Auch das ist so ein Standard beim Bäcker, wenn
man in den Wochen vor dem Temperatursturz darauf besteht, alles zu lange zu
heiß und zu trocken zu finden. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
sagt dann jemand, dass „wir“ aber „alle“ jammern werden, sobald es wieder etwas
kälter wird. Umgekehrt geschieht das deutlich seltener.
Jammern wir also einfach mal nicht! Stoßseufzern wir stattdessen, ohne Scham und
schlechtes Gewissen: Endlich! Endlich ist der Herbst da, endlich hat die
langweilige und lähmende Hitze ein Ende. Endlich können wir ohne Sonnenbrille
in den Himmel sehen, der mit den vielen Wolken auch gleich viel interessanter
ist, endlich können wir uns wieder freuen, nach dem Regen ins Trockene zu
kommen. Endlich können wir auch wieder frösteln (nicht frieren, das wünscht man
niemandem).
Ein herrlich bittersüßes Gefühl
Der Herbst ist da und das ist schön, nicht zuletzt deshalb, weil Melancholie so ein herrlich bittersüßes Gefühl ist für alle, die zu ihr fähig sind. Sie ist ein kleiner Tod, durch den das zuvor gelebte Sommerleben erst an Kontur gewinnt, sich zu einer Geschichte rundet, der Geschichte eines Sommers. Oder um es mit Wenzel zu sagen: „Feinslieb, komm stirb mit mir ein Stück …“ Denn ohne diesen Tod, damit sind wir zugleich bei den alten Mythen über die Jahreszeiten und bei den neuen Wahrheiten über die Erderwärmung, gibt es erst gar kein neues Leben.