Heidi Reichinnek, Claudia Sheinbaum: So erleben Frauen Sexismus in welcher Politik

Auf dem Video ist es deutlich zu sehen. Ein Mann geht inmitten einer Menschenmenge auf Mexikos Präsidentin Claudia Sheinbaum zu. Wenige Sekunden später, sind seine Hände an ihren Brüsten. Mitten in der Öffentlichkeit, am helllichten Tag bei einem offiziellen Termin, umgeben von Sicherheitspersonal. Noch vor Ort wird er festgenommen und wie sich herausstellt, war Sheinbaum wohl nicht die erste Frau in der Menge, die er begrapscht hat.
Der Fall wirkt wie ein Extrem, ist aber bei Weitem kein Einzelfall.

Nur wenige Tage später erstattete auch die Linke-Politikerin Heidi Reichinnek Anzeige. Der Leipziger Juraprofessor Tim Drygala hatte in einem X-Post ein Foto von seinem Kühlschrank geteilt, auf dem ein Bild von Reichinnek klebt – als Erinnerung an ihn, dass er den Kühlschrank immer mit einem Faustschlag schließen müsse, steht im Text zu dem Post. Was bei Sheinbaum offensichtlich ist, wird bei Reichinnek nun weit und breit diskutiert: Ist das Sexismus? Die Antwort lautet eindeutig: ja!

Und das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass Drygala es für normal und in Ordnung hält, Witze darüber zu machen, einer Frau Gewalt anzutun. Genau dieses Verhalten, solche Kommentare und Witze relativieren die häusliche Gewalt, die hunderte von Frauen, aber auch viele Männer allein in Deutschland, jeden Tag erleben, und machen es somit leichter für Täter, mit ihren Taten davonzukommen.

Sexismus: Alltag für Politikerinnen

Das eigentliche Problem, das sowohl der Anzeige von Sheinbaum als auch der Reichinneks zugrunde liegt, ist die Alltäglichkeit von Gewalt und Hass gegen Politikerinnen und ja, die hat etwas mit ihrem Geschlecht zu tun. Politikerinnen sind allein durch ihre Arbeit einem erhöhten Ausmaß an sexistischen Anfeindungen ausgesetzt. Sie stehen in der Öffentlichkeit, mit ihrer politischen Meinung und halten Machtpositionen. Alles Dinge, die Frauen aus einer patriarchal-sexistischen Perspektive, nicht tun sollten.

Natürlich erleben auch Politiker Hass, dieser richtet sich aber primär gegen ihre Arbeit, nicht gegen sie als Mann oder Person. Robert Habeck wurde nicht als Robert Habeck angegriffen, sondern als der Minister, der die Heizung teuer macht. Wohingegen Annalena Baerbock, als sie für das Kanzlerinnenamt kandidierte, regelmäßig auch für ihre zu „mädchenhafte“ Kleidung angegriffen wurde und immer wieder die Frage im Raum stand, wer sich denn um ihre Kinder kümmere, wenn sie Kanzlerin würde. Dass auch die meisten Kanzler vor Angela Merkel Kinder hatten, und wer sich um die kümmere, während ihr Vater Kanzler ist, war nie Thema.

Zu genau diesem Bundestagswahlkampf 2021, in dem Baerbock als Spitzenkandidatin der Grünen antrat, hat HateAid gemeinsam mit dem Institute for Strategic Dialogue (ISD) untersucht, wie Hass, Rassismus und Sexismus die Wahl prägten. Ein Fall, den sie konkret untersuchten, war ein Auftritt von Ricarda Lang bei „hart aber fair“. Mit Beginn der Talkshow explodierte die Anzahl von Posts, die mit ihrem Namen abgesetzt wurden, am Tag darauf hatte sich ein regelrechter Shitstorm entwickelt. Mindestens jeder fünfte Kommentar wäre dabei aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum gekommen und auffallend viele davon, hätten sich nicht auf Langs politische Aussagen in der Talkshow, sondern ihr Aussehen bezogen.

Als Frau diskriminiert, als Politikerin gehasst

Lang ist seit Jahren das Paradebeispiel dafür, welcher Hass jungen und selbstbewussten Frauen in der Politik entgegenschlägt. Als dicke Frau entspricht sie zudem nicht dem Schönheitsideal, und genau darauf zielt der Hass ab. Ihre Kompetenz wurde ihr abgesprochen, weil sie keine „abgeschlossene Ausbildung“ habe, und gerade von einer „Dicken“ ließe man sich nicht die grüne „Verbotspolitik“ diktieren und vorschreiben, wie man besser zu leben habe. Einem Mann würden solche Kommentare niemals in der Masse entgegenschlagen.

Das zweite Paradebeispiel für sexistischen Hass auf Politikerinnen ist Sawsan Chebli von der Berliner SPD. Hier ist der zusätzliche Grund für den Hass, dass sie nicht Teil der weißen Mehrheitsgesellschaft ist. Je mehr Merkmale eine Frau in sich vereint, für die sie diskriminiert wird, desto schlimmer wird der Hass.

Es trifft trotzdem fast alle und parteiunabhängig. Egal ob Linke, Grüne oder CDU – auch Dorothee Bär (CSU) beklagte sich schon über den Sexismus, den sie und andere Politikerinnen ihrer Partei regelmäßig erleben. Viele Politikerinnen erhalten regelmäßig Morddrohungen und Gewaltfantasien gegen sie. Auch Politiker bekommen solche Mails, aber Vergewaltigungsfantasien, die konkret auf Politikerinnen als Frauen zielen, bekommen sie nicht. Von Hass in besonderem Ausmaß betroffen sind zudem auch meistens Politikerinnen.

Einer Spiegel-Umfrage von 2021 zufolge, bekommt die Mehrheit der Politikerinnen regelmäßig Hassmails. Jede dritte Politikerin in Deutschland hat darüber hinaus schon einmal einen körperlichen Angriff erlebt. Sheinbaum ist nicht die Ausnahme. Dass diese Angriffe nicht regelmäßig breit debattiert werden, liegt zum einen daran, dass sich nicht alles anzeigen lässt, schon allein, weil die Kapazitäten und Möglichkeiten dafür fehlen. Die wenigsten Politikerinnen machen die konkreten Fälle öffentlich. Und was den Tätern hilft, ist, dass sexistische Kommentare und selbst Gewalt gegen Frauen immer noch wie ein Kavaliersdelikt behandelt werden.

Sexismus auch im Bundestag

Und das passiert nicht nur im Wahlkampf und im Kontakt mit Wählerinnen. Zwar sind die Zeiten (1976) vorbei, in denen es hingenommen wird, dass ein Bundestagspräsident (Richard Stücklen, CSU) einer Abgeordneten (Helga Schuchardt, FDP) im Plenarsaal mit dem Daumen über den Rücken fährt, um zu prüfen, ob sie einen BH trägt – worauf vorher Abgeordnete seiner Fraktion gewettet hatten, Sexismus gibt es im Parlament aber immer noch, nur deutlich subtiler.

Auf Parteitagen wird es beispielsweise regelmäßig auffällig laut im Saal, wenn eine Frau zum Rednerpult geht. Als Saskia Esken bei der Vorstellung des schwarz-roten Koalitionsvertrags als einzige Frau und als letzte spricht, beginnt Markus Söder, ebenfalls auf dem Podium, ganz auffällig am Handy zu daddeln und winkt abfällig, als Esken ihre gute Beziehung untereinander lobt. Ein Bild, das jeder klar macht: Merz, Klingbeil und Söder haben die wichtigen Punkte benannt, Frau Esken erzählt nur noch Belangloses.

Beiträge von Frauen werden im Bundestag regelmäßig abfällig von den Bänken aus kommentiert – überproportional häufig von der AfD. Dabei geht es selten um die politische Aussage, sondern darum, die Politikerin auf ihr Aussehen zu reduzieren. Das Ziel ist klar: Frauen ihre Kompetenz abzusprechen, sie sollen brav still sein und aus der Politik möglichst verschwinden.

Sexismus konsequent zur Anzeige bringen

Bei nur 30 Prozent Frauenanteil im Bundestag, also mehr als doppelt so vielen Männern wie Frauen, kann eine solche Situation auf eine Frau, die alleine vorn am Rednerpult steht, durchaus bedrohlich wirken. Und es bindet Zeit und Kraft, wenn Teile des Teams der Abgeordneten immer wieder vollauf damit beschäftigt sind, sexistischen Shitstorms etwas entgegenzusetzen. In einem solchen Umfeld überlegen viele Frauen es sich sehr genau, ob sie bereit sind, als Politikerin zu arbeiten, wenn Hass und Sexismus wie selbstverständlich zum Job gehören.

In Reaktion darauf und um junge Frauen trotzdem in die Politik zu bekommen, bietet die Grüne Jugend Workshops für junge Bundestagskandidatinnen an, in denen sie den Umgang mit sexistischer Anfeindung lernen sollen. Das hilft den Betroffenen vielleicht in der individuellen Situation, ändert aber nichts an dem Problem.

Wichtiger wäre, die Anzeige dieser Kommentare zu vereinfachen und konsequent zu verfolgen. Nicht wenige der sexistischen Kommentare in den sozialen Medien oder Hassmails werden mit Klarnamen verschickt, was eins zeigt: Das Bewusstsein dafür, dass das, was sie tun, Gewalt und eine Straftat ist, haben die Täter nicht.