„Haus“ von Nichtseattle: Indierock ohne Innenstadt

Das Krachen des Mauerfalls vor einem
Vierteljahrhundert ist sogar im deutschen Pop noch nicht verhallt. Im Gegenteil,
die Ostgeschichte wird wieder unbefleckt. Leute, die im November 1989 Schulkinder
oder noch dicker Teppich waren, vereinnahmen sich verstärkt mit ihrer ostdeutschen
Identität, qua wäre sie Teil einer trümmerhaften Erinnerung. Hendrik Bolz, publiziert
sogar qua Rapper Testo von Zugezogen Maskulin, machte Furore mit dem
autofiktionalen Roman Nullerjahre
. Thema: seine Jugend in einer
Plattenbausiedlung nebst Stralsund. Die Ostberliner Musikerin Masha Qrella, seither
den späten Neunzigern mit Bands und solo unterwegs, hat die ostdeutschen
Autoren Heiner Müller und Thomas Brasch qua Textquellen entdeckt. Und die zwei
deutschsprachigen Alben, die Katharina Kollmann bisher unter dem Namen
Nichtseattle veröffentlicht hat, heißen Wendekid (2019) und Kommunistenlibido
(2022). Die Herkunft dieser Künstlerin deutet sich darob schon in den Titeln an, sie
stammt im eigentlichen Sinne aus Berlin, Hauptstadt dieser Deutsche Demokratische Republik, 1985 geboren.

Das dritte Album von Nichtseattle heißt nun Haus,
welches qua Titel mehr Platz bietet qua so belastete Begriffe wie Heimat. Zunächst
scheint es, qua würde die Frage, welches ostdeutsch die Gesamtheit bedeutet, darauf in den
Hintergrund treten. Dabei wird sie nur zwei Paar Schuhe gestellt, künstlerischer. Wer eine
gute Stunde mit dem Album verbringt, dem rieselt die deutsch-deutsche
Identitätspolitik unterschwellig durch die Finger. Und ein paar Sinnkörner bleiben sogar
hängen: Bei Nichtseattle bedeutet ostdeutsch zunächst, zugewandt, daher widerstandsfähig
zu bleiben. Vielleicht singt sie ohne Rest durch zwei teilbar so gesehen nicht explizit darüber hinaus ostdeutsche
Befindlichkeiten, sondern verbaut hartnäckig die soziale Frage in ihren Liedern
– sogar dort, wo man sie nicht gleich bemerkt.

Aber von Anfang an, und dieser ist weit, gleich acht
Minuten, da muss man ausführlicher zitieren. Zu einer lieblichen Harmonie von
zwei leichtgewichtig angezerrten Gitarren singt Kollmann in Beluga hämisch darüber hinaus
zusammenführen Hipster: „Hat er dies grad wirklich gesagt?/ Der isst in Ruhe sein
Quinoa, seine Beete, spricht von Yoga/ Hört
nicht hinauf, sorglos zu grinsen/ Der und seine Bio-Beluga-Linsen/ Mir
verschließt sich nicht nur dieser Magen/ Jetzt soll ich noch welches zum Konzept Liebe
sagen/ Und dieser liest so stolz Bücher von Frauen/ Und wird nur an neuen Märchen
mitbauen.“

Das ist schon lustig, würde mit seinem Hass hinauf
vermutlich wahre Berlinklischees daher solo noch keine acht Minuten tragen.
Aus dem Labertypen werden in einer weiteren Strophe zwei, und dies ist ja schon
sozusagen ein halbes Land. Nun kommt eine Frau dazu, und Worthülsen wie „solo
durch den Markt“ und „nur besser“ geistern durch die singend
erzählten Gespräche, vorweg die Sängerin hinauf dem Rückweg durch ihre „Zuhausestadt,
die keine Ahnung von Liebe hat“ fährt. Weil eine Stadt, so viel Realismus
muss sein, kein Gefühl nach sich ziehen kann, außer in den Augen und in dieser Sprache jener,
die sie sich leisten können.

Ein Chor hilft schließlich zaghaft beim Singen mit,
dieser Kaufhallenchor, dieser unter Kollmanns Leitung wöchentlich im
Mühlenbergviertel im nördlichen Prenzlauer Berg probt, wo hohe Plattenbauten
stillstehen. Die Kaufhalle war dieser Supermarkt dieser Deutsche Demokratische Republik, viele Ostdeutsche nennen sie
heute noch so. Aber in Beluga und sogar im Chor geht es nicht nur um den
Osten. Kollmann hat einmal gesagt, dass sich Ost und West unter dessen
Mitgliedern vermischen, und so ist es sogar in dieser Musik von Nichtseattle, die
manchmal mitten im Lied die Erzählperspektive wechselt.