Hauptstadt jener Ukraine: Aus Kiew wird Kyjiw

Liebe Leserinnen und liebe Leser, ab heute ändert sich etwas in dieser Zeitung. Es ist nicht viel, könnte man meinen, drei Buchstaben. Und doch bedeutet es eine riesige Umstellung. Wir schreiben statt Kiew jetzt Kyjiw, wenn wir die ukrainische Hauptstadt meinen. Keine Angst, es ist nicht so kompliziert, wie es auf den ersten Blick wirkt. Man spricht „Kyjiw“ so, wie man es liest, mit einem Y wie in „Xylophon“. Wir nutzen nicht länger die Transliteration aus dem Russischen, sondern die aus dem Ukrainischen, das seit 33 Jahren die einzige Amtssprache des Landes ist. Darüber haben wir viele Jahre diskutiert, und bis jetzt überwogen in unserer Redaktion die Argumente, dass die bisherige Schreibweise besser lesbar sei und Sie als Leser sich daran gewöhnt hätten. Zudem könnte man eine Umstellung als Solidaritätsbekundung, eine Parteilichkeit mit der Ukraine auffassen, was uns Journalisten nicht gut ansteht. Aber mit jedem weiteren Tag, den der russische Angriffskrieg andauert und mit dem die Ukraine sich gegen die Vernichtung ihrer Souveränität und Kultur und nicht zuletzt auch gegen die Auslöschung ihrer Sprache wehren muss, verlieren diese Argumente an Stichhaltigkeit.

Sprache wurde gezielt zur Unterdrückung benutzt

Manch einer argumentiert, die Schreibweise Kiew habe nichts mit russischer Repression zu tun. Das deutsche Wort Kiew, heißt es, gehe auf eine Umschrift aus den Zeiten der alten Rus zurück, des ostslawischen Reichs im Frühmittelalter, dessen Zentrum das heutige Kyjiw war. Die Schreibweise sei also entstanden, lange bevor das russische Imperium oder die Sowjetunion existierten. Das ist nicht falsch, aber es verliert sein Gewicht vor dem Hintergrund, dass in den vergangenen 200 Jahren Herrschende in Moskau gezielt die Sprache nutzten, um die ukrainische Kultur und Identität zu unterdrücken.

Auch der heutige russische Angriffskrieg ist ein Krieg, der mit Sprache geführt wird. Der russische Präsident Wladimir Putin verbreitete kurz vor dem Überfall auf die Ukraine die Thesen, die Ukrainer seien kein eigenständiges Volk und eine ukrainische Sprache existiere nicht. Seit Kriegsbeginn lässt er in besetzten Gebieten ukrainische Museen zerstören. Ukrainische Lehrbücher werden gegen russische ausgetauscht. Ukrainische Kinder werden mit der russischen Geschichtsschreibung indoktriniert. Lehrer, die zu Beginn der Besatzung versuchten, Schulen im Untergrund zu organisieren, wurden bedroht oder gar eingesperrt. Russland entführt zudem systematisch ukrainische Kinder und zwingt ihnen eine neue, russische Identität auf. Sie dürfen nicht mehr Ukrainisch sprechen. Einige, denen die Flucht gelang, erzählen, dass sie geschlagen wurden, weil sie die russische Nationalhymne nicht singen wollten. Der Internationale Strafgerichtshof hat wegen dieser Verschleppungen einen Haftbefehl gegen Putin erlassen.

Putins Vorgehen ist nicht völlig neu, seit Jahrhunderten schon versuchen Herrschende in Moskau, den Ukrainerinnen und Ukrainern ihre Sprache zu nehmen. Am repressivsten ging das Russische Reich vor. Es verpönte das Ukrainische fälschlicherweise als einen dem Russischen entsprungenen Dialekt, ließ es 1876 im öffentlichen Raum verbieten. Nur wenigen ukrainischen Schriftstellern gelang es, Schlupflöcher zu finden, um ihre Sprache in literarische Werke zu mogeln. Sie bedienten sich der Mittel der Komödie: Ihre ukrainisch sprechenden Figuren traten als lächerliche, harmlose Gestalten auf, die gerne tranken und insgesamt sonderbar waren. Die Herrschenden ließen das zu, es amüsierte sie. Es sind diese Werke, die die Grundlage für die moderne ukrainische Literatur legten und aus denen sich Theaterregisseure im heutigen Kyjiw bedienen. In der Sowjetunion zementierte Moskau die Hegemonie des Russischen und verdrängte das Ukrainische weiter.

Hier in Deutschland rückt manchmal in den Hintergrund, dass Völker wie das ukrainische innerhalb der Sowjetunion brutal unterdrückt wurden. Die Diktatoren in Moskau, allen voran Josef Stalin, ließen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine Millionen Menschen ermorden, auch weil diese ihre eigene Kultur und Sprache behalten wollten. Der russische Krieg heute ist ein weiterer Versuch dieser Auslöschung.

Manchmal führen erst aktuelle weltpolitische Entwicklungen vor Augen, dass wir umdenken müssen. Uns kostet das nur drei Buchstaben und ein wenig Umgewöhnen. An Tag 980 des russischen Angriffskrieges steigen wir auf die ukrainische Schreibweise Kyjiw um.