Hartmut von Hentig: Das Schweigen droben den Missbrauch an jener Odenwaldschule

Zu Beginn seiner zweibändigen Memoiren wehrte Hartmut von Hentig den Gedanken an eine „Bekenntnisschrift“ noch energisch ab. Anders als sein pädagogisches Vorbild Jean-Jacques Rousseau habe er „nichts zu offenbaren – auch nichts vor mir selbst aufzudecken“. Um so mehr hatte er zu erzählen, von „Kindheit und Jugend“ im ersten, von „Schule, Polis, Gartenhaus“ im zweiten Band. Damals, 2007, war von Hentig noch eine personifizierte Institution dieser Republik, gefragter Vordenker der Bildungsreformen der Sechziger- und Siebzigerjahre, sprachmächtiger homme de lettres, wortgewaltiger Redner und politisch engagierter Intellektueller, schneidiger, streitbarer, stilvoll gekleideter Träger eleganter Kragenfliegen.

Dies änderte sich schlagartig im Frühjahr 2010 unter den Enthüllungen eines jahrzehntelang vertuschten Systems sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen durch Lehrer und Erzieher – ausgerechnet an der berühmten Odenwaldschule, dem Flaggschiff jener Reform­pädagogik, deren Doyen derselbe Hartmut von Hentig war und bleibt. Mit einem Male entpuppte sich die gepriesene Lebensform einer Schulgemeinde, die ihren Zöglingen anstelle einer disziplinären Anstalt einen geschützten und umhegten Raum, eine Polis im Kleinen versprochen hatte, als das genaue Gegenteil: als „gierige Institution“ enthemmter Machtausübung mittels sexualisierter Gewalt und Unterwerfung.

Er behinderte die Aufklärung

Der charismatische Schulleiter Gerold Becker war der Hauptakteur des dort etablierten Systems des Missbrauchs. Zugleich war er der Lebensgefährte Hentigs, der ihn vor allen Vorwürfen in Schutz nahm. Die Aufklärung jener Fälle, die zwölf Jahre zuvor schon einmal publik wurden, hatte er schon da unter Einsatz seines Namens und Renommees behindert, wo er nur konnte; als er dies nicht mehr vermochte, trat er den Rückzug in beharrliches Schweigen an, in der erklärten Hoffnung, die Diskursgewitter würden von selbst wieder abebben.

Als dem nicht so war und Hentig genötigt war, sich selbst von Vorwürfen der Mitwisserschaft zu entlasten, suchte er die Flucht nach vorne und ließ seinen Memoiren im Jahr 2016 einen dritten Band von 1392 Seiten folgen – nunmehr doch noch ein Bekenntnisbuch, eine Apologie seiner selbst und des unterdessen verstorbenen Gefährten gleich mit. Hentig schrieb sich jetzt um Kopf und Kragen, indem er seine Ahnungslosigkeit und fehlende Vorstellung von der Realität und bloßen Möglichkeit von Missbrauch und sexualisierter Gewalt gegenüber Kindern und Heranwachsenden bekannte. Nicht einmal als Wörter und Begriffe hätten Pädophilie, Kindesmiss­brauch und von sexualisierter Gewalt ausgelöste Traumata einen Platz in seiner Vorstellung und Sprache gefunden, folglich auch nicht in seiner Pädagogik.

Eine Frage der Gelegenheit

Doch was ist eine vermeintlich aufgeklärte Pädagogik noch wert, die von all dem nichts weiß? In des Wiener Entdeckers der kindlichen Sexualität „(Drei) Abhandlungen zur Sexualtheorie“ von 1905 hätte der Sigmund-Freud-Preisträger von 1986 bereits den lapidaren Befund lesen können: „So findet sich sexueller Missbrauch von Kindern mit unheimlicher Häufigkeit bei Lehrern und Wartepersonen, bloß weil sich diesen die beste Gelegenheit dazu bietet.“ Hentigs entweder unfreiwillige oder gesuchte Blindheit gegenüber dem pädokriminellen Tun seines Gefährten bleibt unverändert in Kraft auf den vielen Hundert Seiten seines Buchs, in denen der Autor einschlägige Nachhilfe in Wissenschaft, Literatur und Film sucht.

Was er da liest oder sieht, geht jedoch mit jeder Umdrehung der Schraube nur wieder über in die neuerliche Verharmlosung, Verschönerung, ja sogar Verklärung der Untaten eines verantwortungslosen Triebtäters zu „Verfehlungen“ eines wahrhaft Liebenden, eines „freien Sünders“. Die Zeugnisse der Opfer finden hingegen wenig Glauben, werden entweder systematisch angezweifelt und entwertet oder in Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses zu Dokumenten verschmähter Liebe erklärt.

Je unerreichbarer, desto überhöhter

Da klärt sich allmählich auch die verquere Projektion auf, die hier waltet: Hentig, der sich im Zusammenhang erstmals offen zu seiner Homosexualität bekennt, ist ein unglücklich Liebender, dessen ausschließlich pädosexuell veranlagtes Liebesobjekt sich ihm sexuell verweigert. Doch je unerreichbarer das Objekt, je mehr es sich dem Verliebten entzieht, um so mehr wird es dauerhaft idealisiert und überhöht. Umgekehrt aber kann sich das begehrte Objekt unerfüllter Liebe, die deshalb nicht wirklich und schon gar nicht dauerhaft enttäuscht werden kann, der bedingungslosen Loyalität seines Gegenübers sicher sein und unter dessen Schutz ungehindert seinen eben ganz anders gearteten Neigungen nachgehen – im Zweifelsfall erklärt der Triebtäter, er sei der Verlockung und Verführung eines Knaben erlegen. Und Sünder, die aufgrund ererbter Sündhaftigkeit von ihren Sünden gar nicht loskommen können, weil sie allesamt der dämonischen „Großmacht Sexualität“ ausgeliefert seien, sind nach Hentigs letztlich ins Theologische verbrämter Auffassung ohnehin und unterschiedslos alle, ob Männlein, Weiblein oder Kindlein.

Nicht leicht, diesem Hartmut von Hentig gerecht oder auch nur ungerecht zu werden. Er selbst hat sich schon vor Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, wohl weniger aus Altersgründen als aus gekränktem Stolz. Im „Fragebogen“ des F.A.Z.-Magazins hatte Hentig das „Aufräumen“ zur Lieblingsbeschäftigung erklärt. Heute begeht er seinen hundertsten Geburtstag, und wie es aus seiner Umgebung heißt, befinde er sich unverändert im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte, mit denen er dem Alter und der Vergänglichkeit gleichermaßen trotzt wie allen anderen Widersachern.

Und so wird er wohl, wenn nicht schon heute, spätestens morgen wieder weiter bei sich aufräumen. Noch immer unaufgeräumte Erfahrungen, um einen seiner Buchtitel abzuwandeln, dürften in seinem Leben mehr als genug vorhanden sein.

Source: faz.net