„Hamlet“ von Castorf: Hamlet im Gulag
Da ist es wieder, das castorfsche Hochleistungstheater! Enorme Akrobatik der Stimmen wie der Körper.
Es wird gebrüllt und geklettert, geschrien und gekrabbelt, vor allem aber die
Zeit gewaltig gedehnt. Um 18 Uhr beginnt die Premiere von Frank Castorfs
Hamlet-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus, wenn man nach drei, vier
gefühlten, das heißt, wirklich tief empfundenen Stunden nach der Uhr schaut,
stehen die Zeiger auf 19:04. Nach weiteren fünf Stunden zeigen sie 19:28. Das
bedeutet, die erlebte Zeit pro Minute ist nicht nur weiter angeschwollen,
sondern exponentiell gewachsen. Zur Pause um 21 Uhr hat man den Eindruck, nach
achtzehn Jahren Lagerhaft aus dem Gulag Workuta entlassen worden zu sein und
sieht sich ängstlich blinzelnd vor dem Theater im glitzernden Großstadtluxus
des Westens um. Kann das wirklich die gleiche Luft sein, die man eben noch vor
der Bühne geatmet hat?