Guter Stoff | Weihnachtlicher Lesestoff: Die neuesten Bücher jener Hausautor:medial des „Freitag“

A

wie Anna Mae

Hier geht es erst mal nicht um die Ikone, die große Tina, sondern um Anna Mae Bullock (oder Ann Mae oder nur Ann), das Mädchen, aufgewachsen in Nutbush, einem von Siedlern gegründeten Kaff in Tennessee, geprägt von Kirche, Schnaps, Schule und Sauberkeit. Freitag-Autorin Jenni Zylka macht gleich am Anfang ihres Bändchens tina turner (Reclam) klar, wie sehr sie vor allen Dingen diese Anna Mae fasziniert, das Mädchen, das „schwarz und weiblich“ war – eine Prägung fürs Leben.

Wie sie den Gospel entdeckt, die ersten Musikklubs, Diskriminierungen erlebt. Wie autobiografisch der spätere Tina-Hit Nutbush City Limits wirklich ist, versteht man beim Lesen dieses Buches. Denn Zylka kommt dieser Anna Mae wirklich nahe, man spürt, wie sie versucht hat, sie zu verstehen, ihren Schmerz, ihre Grenzen, ihre Stimme und ihre Kraft. Nach der Begegnung mit Ike Turner wird Anna schließlich zu Tina Turner, dem Weltstar. Wie beiläufig erzählt Kennerin Jenni Zylka uns auch noch die Geschichte des Rock ’n’ Roll. Maxi Leinkauf

G

wie Gedichte

Unsere Autor:innen haben viel zu sagen, das ist klar, sonst wären sie ja nicht unsere Autor:innen. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht auch kleine Formen, Prägnanz und poetische Präzision könnten. Und das stellen gleich zwei Gedichtbände unter Beweis – die zugleich unterschiedlicher kaum sein könnten. So erinnert Björn Hayers melancholische Dichtung in Das Haus (Aphaia Verlag) an Texte von Hölderlin oder Celan; sie geben einer tiefen Melancholie angesichts des Verlusts und einer anhaltenden Weltverstörung Ausdruck: „Wie beerdigt man Sprache?“

Katharina Körting wiederum wählt in dAS vORKOMMEN VON oRGANEN AN UNGEWÖHNLICHEN sTELLEN (Geest-Verlag) einen temporeichen, musikalischen, oft ironischen Ton (→ Oral History), der eine „sperrige menschlichkeit“ reklamiert und damit mitten in die Gegenwart zielt. Leander F. Badura

I

wie Irrweg

Die Europäer sind extrem herausgefordert. Mit der Nationalen Sicherheitsstrategie NSS 2025 stellen ihnen die Amerikaner im transatlantischen Miteinander gerade den Stuhl vor die Tür. Sie müssen US-Interessen anerkennen oder sehen, wo sie bleiben. Da kommt das neue Buch des Politikwissenschaftlers Johannes Varwick Stark für den Frieden (Westend) gerade recht.

Den Autor, Lehrstuhlinhaber für internationale Beziehungen an der Universität Halle-Wittenberg, beschäftigt der Irrweg, auf den sich Deutschland wie die EU in ihrer Mehrheit begeben haben. Und das nicht erst seit dem Ukraine-Krieg. Er beschreibt, wie ein kaum mehr verkappter Militarismus, den man überwunden glaubte, im Namen der Ertüchtigung zum Krieg zurückkehrt und Widerspruch als „prorussisch“ denunziert wird. Eine starke Landesverteidigung sei angemessen, so Varwick, aber mit Blick auf Russland brauche sie eine seriöse Bedrohungsanalyse, alles andere führe zu einem eindimensionalen Denken, dem Maß und Mitte fehlen. Lutz Herden

K

wie Kaiserslautern

Der Dschungel war eine legendäre Diskothek in Westberlin. Vermutlich hat er schon mal Eingang in einen Roman gefunden, aber bestimmt nicht so wie in Christian Barons Drei Schwestern (Claassen). In dem Szeneschuppen trägt die gerade mal 17-jährige Mira bei einem Lyrikabend ihre Gedichte vor und wird verächtlich gemacht. Sie flüchtet mit ihrem Freund Ottes zurück nach Kreuzberg, das in ihren Augen in diesen tristen Achtzigerjahren auch nicht so anders ausschaut wie das Kaiserslautern, aus dem sie stammt.

Die Gedichte, die Mira liest, sind die Gedichte von Christin Barons Mutter, er hat sie aus ihrem Nachlass übernommen. Man würde hier am liebsten einfach die Passage abdrucken, um zu zeigen, wie fein Baron die Klassengesellschaft auch in diesem dritten Band der Trilogie seiner Herkunft (→ Anna Mae) beschreibt. Michael Angele

M

wie Musikindustrie

Die New York Times widmete sich neulich der Frage, ob die Generation X womöglich die großartigste Kohorte von allen ist. Fest machte sie das an deren nachhaltigem popkulturellen Einfluss. Dazu trugen auch Magazine bei, die neu und anders kritisierten – und Journalistinnen wie Sonja Eismann, die sich mit Popkultur und Feminismus gleichermaßen auskennen. Ein Resultat ihrer langen Beschäftigung mit diesem Themenkomplex ist das soeben bei Nautilus erschienene Buch Candy Girls über Sexismus in der Musikindustrie.

Eismann verhandelt anhand unendlich vieler Fälle, wie Frauen kleingehalten, benutzt und beschämt werden, mal trifft es Künstlerinnen, mal Fans. Oft ertappt man sich bei dem Gedanken: Wie kann es sein, dass ich davon nicht gehört habe? Eismann erzählt von imaginierter Gewalt und von nicht geächteten Straftaten. Ihr Ton ist dabei sehr klar und auch lässig, was Candy Girls selbst zu einem aufklärerischen Stück Popliteratur, Abteilung Sachbuch, macht. Christine Käppeler

N

wie Neue Linke

Eigentlich war er ausgeschlossen, der Erfolg der Linkspartei bei der Bundestagswahl im Februar. Denn eine Partei, die bei zwei Prozent herumkrebst, die klinisch tot ist, geschwächt nach der Abspaltung ihrer beliebtesten Führungsfigur (→ Irrweg), ihrer eigenen Klientel entfremdet und abgeschrieben: Niemand erwartet von so einer Partei, dass sie auf acht Prozent der Wählerstimmen kommt.

Wie erklärt sich dieser Überraschungserfolg? Da wären einige glückliche Umstände, Timing, das politische Unvermögen von Friedrich Merz, okay. Alles andere, also alles, was die Partei selber richtig gemacht hat, analysiert Daniel Bax in Die neue Lust auf links. Woher sie kommen, wohin sie gehen und wie sie unser Land verändern (Goldmann). Und wer es richtig gemacht hat, also das Personal. Ein Einblick in den Moment, da sich eine Partei neu erfindet. Pepe Egger

O

wie Oral History

Ein paar kulturpessimistische Tränen fallen bei diesem Buch dann doch. Erika Thomalla, Literaturwissenschaftlerin und Freitag-Autorin, erinnert mit Gegenwart machen (Schöffling & Co.) an den unwiederbringlich verlorenen Popjournalismus. Ausgehend vom subjektiven Ton der späten 1970er Jahre, führt ihre klug montierte Oral History zu Magazinen wie Spex, Tempo und der deutschen Vanity Fair, deren von Ulf Poschardt beschworene „Movers and Shakers“ sich schneller abwandten als gedacht. Rund 90 Stimmen hat Thomalla versammelt; die wenigen weiblichenzeigen, wie einseitig die Branche damals war (→ Musikindustrie).

Maxim Biller darf nicht fehlen: „Wir waren die Avantgarde, und das sind wir leider immer noch. Junge Journalisten von heute interessieren sich nämlich gar nicht fürs Schreiben. Sie wollen durchschnittlich bezahlte Redakteure mit durchschnittlich geschriebenen Geschichten sein.“ Vielleicht hat er recht. Beim Blättern spürt man, wie fern das alles geworden ist – und dass gerade darin ein Anspruch für die Gegenwart liegen könnte. Philipp Haibach

P

wie Paranoia

Der Rechtspopulismus „war nur ein Übergangsmedium“, stellen Markus Metz und Georg Seeßlen in Blödmaschinen II. Die Fabrikation der politischen Paranoia (Suhrkamp) fest: Jetzt sind wir schon weiter, haben „halbfaschistische Parteien und Bewegungen“ vor Augen. Aus dem wichtigen Buch sei nur zitiert, dass nicht nur die Behauptung vom „Ende der Geschichte“, aufgestellt 1989, falsch war, sondern auch die vorausgegangene vom „Ende der großen Erzählungen“.

Jean-François Lyotard, der es 1979 in Das postmoderne Wissen proklamierte, hat nicht gefragt, was denn, wenn die großen Erzählungen ausfallen, die Menschen eigentlich noch → zusammenhält. Ausgefallen ist damals das Wissen und die Hoffnung eines Karl Marx, dafür macht sich jetzt der Faschismus breit; die Frage ist, ob das noch rückgängig gemacht werden kann. Michael Jäger

S

wie Sexualität

Falls in Ihrem Umfeld bald ein „heiliges Kind“ (Nachwuchs) ankommt, ist dies ein klasse Geschenktipp: Orgasmic Parents (EMF)möchte Eltern mit vielen praktischen Tipps und einer ästhetisch sehr liebevollen Gestaltung dabei helfen, Lust und Intimität lebendig zu halten. Damit zwischen Babybauch, Schnullern und schlaflosen Nächten die Alltagsromantik nicht verloren geht, haben zwei Sexualtherapeutinnen und die Gestalterin Natalia Alicja Dziwisch (die gerade wöchentlich die Freitag-Titel gestaltet) sehr nahbar erarbeitet, wie Sexualität und Paarsein auch in dieser herausfordernden Lebensphase Raum finden können.

Begleitet wird das durch zahlreiche kleine Illustrationen im gesamten Buch, die etwa Körperübungen wie das „Brüsteschaukeln“ visualisieren. Dazu kommen ehrliche Zitate von Paaren, die schonungslos von ihren Erfahrungen erzählen. Etwa Nici und Benjamin, die auf Seite 95 berichten, wie sie im Online-Geburtsvorbereitungskurs plötzlich intim wurden. Eine Anekdote: Schlafmangel kann dazu führen, dass man plötzlich versucht, ein Kissen zu stillen. Lisa Kolbe

Z

wie Zusammenhalt

Im Journalismus gilt good news are no news. Doch selbst wir Profis glauben inzwischen: Irgendwas ist gekippt. Spätestens seit der Corona-Pandemie jagt eine Krise die nächste, die Debattenseiten der Feuilletons und das Internet sind voll mit Spaltungserzählungen (→ Paranoia). Hinter jeder steckt dasselbe Muster: Täter, Opfer und Retter*in.

„Alles Bullshit“, schreibt die Politikwissenschaftlerin Gilda Sahebi und dechiffriert in ihrem neuen Buch Verbinden statt spalten (S. Fischer), wie Polarisierung in der Politik zur Mehrung von Macht dient. Vor allem aber, dass der sogenannte Kampf der Kulturen, der uns gerne als solcher verkauft wird, nicht existiert. Im letzten Kapitel erfährt man: Gerade in Zeiten der Krise halten Menschen zusammen und das Beste in uns scheint hervor. Iynşallah! Diese Lektüre ist Nahrung und Balsam für Ihre Seele. Canset Içpınâr