Großer Wirecard-Musterprozess mit Eklat gestartet
Im großen Verfahren der Wirecard-Anleger gegen Verantwortliche des ehemaligen Dax-Unternehmens und die Wirtschaftsprüfung EY hat Richterin Andrea Schmidt, Präsidentin des Bayerischen Obersten Landesgerichts, den Beteiligten eine gütliche Einigung empfohlen. Das dürfte bei vielen der unzähligen Wirecard-Anleger Hoffnung wecken, zumindest für einen Teil ihrer Verluste entschädigt zu werden.
Ein Selbstläufer wird das jedoch nicht, wie sich im weiteren Verlauf der Verhandlung zeigte, denn viele der am Freitag abgehandelten Feststellungsziele der Kläger waren dem Gericht zu unbestimmt.
Kläger wollen das Gericht wechseln
Zunächst jedoch startete der Musterprozess am Freitag im verschneiten, aber sonnigen München mit einem ziemlichen Eklat. Als Vorsitzende des Ersten Zivilsenats verwies Richterin Schmidt direkt nach der Vorstellung der zahlreichen für Kläger und Beklagte erschienenen Rechtsanwälte auf einen Antrag, der erst kurz vor dem Start der Verhandlung frisch ausgedruckt worden war. Und der hatte es in sich.
Darin beantragen Anwälte der Klägerseite, das Bayerische Oberste Landesgericht als nicht zuständig für das Musterverfahren zu erklären. Sie wollen, dass das Verfahren zurück an das Landgericht München I oder gleich an das Oberlandesgericht München verwiesen wird. Sie führen nicht nur eine formelle Unzuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts ins Feld, sondern sehen die anderen Gerichte auch als geeigneter für den Fall. Dort versprechen sie sich ein rascheres Verfahren.
Das Bayerische Oberste Landesgericht dagegen ging laut Präsidentin Schmidt nach einer kurzen Unterbrechung der Verhandlung jedoch davon aus, für das Verfahren zuständig zu sein. Danach machte Schmidt gleich eine wichtige Ansage für die Kläger und Beklagten: „Der Senat geht schon davon aus, dass es für alle Beteiligten sinnvoll wäre, über eine gütliche Einigung nachzudenken und darüber Gespräche zu führen“, sagte die Richterin.
Das dürfte eine gute Nachricht für die Wirecard-Geschädigten sein, die sich am ehesten von der Wirtschaftsprüfung EY eine Entschädigung erhoffen. Denn bei den anderen Beklagten, wie dem ehemaligen Wirecard-Chef Markus Braun oder dem flüchtigen Ex-Wirecard-Manager Jan Marsalek, ist nach Einschätzung der Anwälte nichts zu holen.
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Ohne Weiteres dürfte sich die Wirtschaftsprüfung EY aber nicht auf Gespräche über einen Vergleich einlassen. Denn bisher ließ die Verhandlung noch zu viele Punkte offen, etwa zur Grundsatzfrage, ob das Bilanztestat von Wirtschaftsprüfern eine öffentliche Kapitalmarktinformation darstellt, also ob es überhaupt Gegenstand eines Kapitalanlegermusterverfahrens sein kann.
Richterin Schmidt machte deutlich, dass sich der Senat zu dieser wichtigen Streitfrage noch keine abschließende Meinung gebildet habe. Sie verwies dabei auf den Bundesgerichtshof, der parallel ebenfalls einen Fall zur Frage vorliegen hat, ob die Testate von EY über die Wirecard-Bilanzen in das Musterverfahren gehören. Die Fronten sind ziemlich hart, denn EY schätzt die Schadenersatzforderungen als unbegründet ein.
Musterverfahren läuft anders als normale Prozesse
Ein Musterverfahren wie im Fall der Wirecard-Anleger folgt einem anderen Rahmen als normale Prozesse. Denn es soll zunächst nur Grundsatzfragen klären, die für die Masse der Betroffenen entscheidend sind. Der Rechtsanwalt des Musterklägers im Wirecard-Anlegerprozess ist Elmar Vitt aus der niedersächsischen Gemeinde Salzhausen. Seine Firma Jurfin finanziert das Verfahren für den Musterkläger sowie andere Wirecard-Geschädigte.
Hinter dem Musterverfahren stehen neben dem Musterkläger 8500 Einzelklagen mit einer Schadensumme von 750 Millionen Euro. Weitere 19.000 Wirecard-Anleger haben Ansprüche im Musterverfahren angemeldet. Und im Wirecard-Insolvenzverfahren stellen 50.000 Aktionäre Schadenersatzforderungen in Höhe von 8,5 Milliarden Euro. Anlegerschützer sprechen vom größten Schadenersatzfall der deutschen Justizgeschichte.
Musterklägeranwalt Vitt hat die in Kapitalmarktprozessen erfahrene Kanzlei Mattil & Kollegen an Bord geholt, um den Musterkläger in dem komplexen Verfahren zu vertreten. Bei dem Musterkläger handelt es sich um einen unter den Tausenden von Wirecard-Geschädigten ausgesuchten Kläger, dessen Einzelfall besonders aussagekräftig und repräsentativ für die Masse der Betroffenen ist.
Zudem müssen Musterkläger sowie ihre Anwälte und Prozessvertreter aus Sicht des Gerichts satisfaktionsfähig sein, also über das Urteilsvermögen und die Erfahrung verfügen, um ein Verfahren von so großer Bedeutung intellektuell und organisatorisch stemmen zu können. Auch andere auf Kapitalmarktrecht spezialisierte Kanzleien hatten sich mit ausgewählten Mandanten für die Rolle des Musterklägers beworben. Vitts Mustermandant Kurt Ebert ist Diplom-Kaufmann und besitzt Berufserfahrung in Sachen Banken und Kapitalmarkt.
Mit dem Rechtsanwalt Vitt spielt ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Jurist die Hauptrolle bei der Vertretung der Klägerseite. Er hat Physik studiert und denkt daher nicht nur juristisch, sondern auch naturwissenschaftlich. Aus dem kleinen Salzhausen orchestriert Vitt das Vorgehen und erstellt die umfangreichen Schriftsätze. Sein Ziel: Schadenersatz für die Wirecard-Geschädigten so schnell wie möglich.
Für das große Musterverfahren haben unterschiedliche Klägeranwälte eine riesige Zahl an Feststellungszielen formuliert, von denen das Gericht am Freitag zunächst allerdings nur eine ältere Version abhandelte. Das Verlesen der Liste dauerte so lang, dass die Richterin fast heiser wurde. Sie erklärte den überwiegenden Teil dieser ursprünglichen Feststellungsziele für unbestimmt und daher unzulässig. Ein Anlegerschützer sprach am Rande der Veranstaltung sogar von einem Massaker.
Wie es nach dem Verhandlungsstart weitergeht
Die Klägerseite will sich davon nicht entmutigen lassen, denn sie hat inzwischen deutliche Nachbesserungen gegenüber der ersten Version geliefert. So hatte die Kanzlei Mattil im Juni 2023 einen 800-seitigen Schriftsatz eingereicht, der 200 Seiten mit Feststellungszielen und 600 Seiten mit Begründungen enthält.
Zu diesen Erweiterungen hat sich das Gericht bis zum Nachmittag aber noch nicht konkret geäußert, sprach aber von insgesamt 2500 Feststellungszielen. Mit dieser Riesenliste will sich der Senat noch ausführlich befassen. Die Anleger müssen daher hoffen, im weiteren Prozessverlauf zum Zuge zu kommen. Das Gericht will eine Entscheidung am 28. Februar 2025 verkünden.