Großbritannien-Wahl: Ein Besuch in dieser proletarischen Bastion Manchester

Manchester ist eine der linksten Großstädte Europas. In der Stadtverordnetenversammlung sitzen die unabhängigen Abgeordneten Amna Saad Omar Abdullatif und Shahbaz Sarwar von der Workers Party of Britain, dazu drei Grüne, vier Liberaldemokraten, 16 Abgeordnete von Labour and Cooperative und 71 von der Labour Party. Da Umfragen vermuten ließen, dass ganz Großbritannien bei der Parlamentswahl an diesem 4. Juli auf eine vergleichbare Labour-Dominanz zusteuert, sah ich mir das Labour-Land Manchester kurz vor dem Wahltag an.

Der Metzger braucht Platz

Die Stadt, die der Urform von Ausbeutung der Arbeiterklasse ihren Namen lieh („Manchester-Kapitalismus“), bildet auch im weitgehend deindustrialisierten England noch eine proletarische Bastion: Die Untergruppe der Emergent Service Workers, wie das Personal in Gastronomie und Pflege genannt wird, stellt 36 Prozent der Stadtbevölkerung (landesweit nur 19). Aussagekräftig ist auch, dass 20 Prozent der Einwohner (landesweit etwa 15) zur niedrigsten Schicht des „prekären Proletariats“ gerechnet werden. Ich dachte zunächst an die Schilderungen von Ancoats, das Mitte des 19. Jahrhunderts als „die erste Industrievorstadt der Welt“ beschrieben wurde – als ein feucht-dreckiger Slum „mit sechs, sieben und acht Reihen modriger und geschwärzter Fenster“. Heute liegt in diesem Rayon der standesgemäße Sitz von Labour Manchester. Inzwischen handelt es sich um ein stylisches Ausgehviertel. Ich musste an den Lobby-Lounges neuer Residenz-Glastürme vorbei, in denen genau solche Global Citizens abhängen, wie man sie in der Reklame-Visualisierung der „Speakeasy Lounge“ gesehen hat: Dort saßen zwei Personen allein herum, eine davon zeitunglesend, eine aufs Handy schauend, während dem ganzen großen Rest – in drei Gruppen miteinander plaudernden Schönheiten – der postpandemische Wiedereintritt in die menschliche Kommunikation gelungen war. Ich drehte um.

Danach sah ich mir das Tagesprogramm der Stadtverordnetenversammlung an. Da gab es nicht viel – um zehn Uhr behandelte das „Licensing and Appeals Sub Committee“ unter Ausschluss der sonst grundsätzlich zugelassenen Öffentlichkeit das Ansuchen einer Halal-Metzgerei in der Cheetham Hill Road um Genehmigung eines Straßenstands. Der Bezirk Cheetham ist ein ehemaliges Textilarbeiterviertel. Das Quartier – mir vollkommen unbekannt – ließ sich mit einer Stunde Fußmarsch erreichen.

Regenbogen-Motive mit Nonbinär-Fahnen

Ich startete gegen 15 Uhr in meinem Hostel am Bahnhof. Die nordenglische Sonne war ideal gemäßigt, die Luft vom Aroma einzelner Joints durchzogen. Die Kieze im Zentrum waren säuberlich gegliedert, wobei im „Gay Quarter“ außer den Blumentöpfen schon so ziemlich alle Regenbogen-Motive mit Nonbinär-Fahnen ergänzt waren und das angrenzende Chinatown erwartungsgemäß aus Chinarestaurants bestand. Ganz im Zentrum fand ich das Denkmal für Richard Cobden (1804 – 1865). Der Unternehmer, Politiker und gläubige Streiter für Freihandel verweist mit seiner „Anti-Corn Law League“ auf eine Zeit, da Freihandel mitunter noch im Interesse der Arbeiterklasse war: Das Gesetz gegen Getreideimporte mehrte den Gewinn der adeligen Grundbesitzer und das Elend der auf das künstlich verteuerte Brot angewiesenen Industriearbeiter. Cobden steht überlebensgroß auf einem hohen Podest. Er weist mit einem gekrümmten Finger gen Himmel – es ist nicht der Zeigefinger, so der Eindruck des Betrachters.

Nördlicher lag „Capri Beach“, eine Party-Kreuzung mit hingeschüttetem Sandstrand. Vor dem Nationalen Fußball-Museum wurde es stiller, es gab einige Business-Glitzer-Blöcke, und ich war auf der lang gezogenen Cheetham Hill Road. Ringsherum das flache Gelände vieler Lagerhallen. Ein Aushang in der katholischen St.-Chad’s-Kirche kündigte eine Madonna-del-Rosario-Prozession ins ehemalige Viertel Little Italy an, ein anderes Plakat erklärte, wie Opfer moderner Sklaverei zu erkennen wären: „Avoids eye contact, appears malnourished, worried about deportation“ (Vermeidet Augenkontakt, erscheint unterernährt, ist besorgt über Abschiebung).

Gedenktafel für Dr. Chaim Weizmann

Ziemlich im Nichts lagert die schöne, aber aufgegebene Synagoge, jetzt das Jüdische Museum von Manchester mit einer Gedenktafel für Dr. Chaim Weizmann: „Zionist leader and first president of the State of Israel (1948). Lived in Manchester 1904 – 1917“. Der Museums-Wachmann war der Letzte, der sich auf meiner Wanderung für Englands EM-Spiele interessierte. Es folgten monotone Reihenhausreihen, verschleierte Frauen. Aus den Turmsäulen einer prächtigen neogotischen Kirche wuchsen Bäumchen. Und in der Klinker-Moschee „Khizra“, die sich mit einem Ensemble kleiner Palmen aufgepeppt fand, saßen lauschend kleine Islamschüler. Genau hier begann ein lebendiges Viertel voller Läden und Imbisslokale. Die recht ansehnlichen Autos wurden oft von Aficionados nahöstlicher Barttracht gelenkt, die Frauen waren durchweg verschleiert. Ich wanderte um den schlichten Straßenstand der kleinen Halal-Metzgerei herum. Das waren eindeutig Preisbrecher: Die ungekühlt ausgestellten No-Name-Limos kosteten 69 Pence, die anderswo gekochten und nur mittags feilgebotenen Biryani-Reisgerichte drei Pfund. Ich aß zunächst im pakistanischen Restaurant gegenüber eine Pilaw-Hühnchenbrust auf zum Verrecken scharfem Reis für acht Pfund. Aus dem Urdu der vier schwarz gewandeten Burschen am Nebentisch hörte ich nur einmal Englisch heraus: „Son of a bitch!“

In dieser Gegend erschien der Dreck auf den Straßen und in manchen Vorgärten beträchtlich. Eine Apotheke warb rechts mit fromm islamischen Motiven (Injektionen für den Hadschi, Tabletten zur Verschiebung der Menstruation), links mit westlichen Fotomodels und Erektionstabletten, die Pille danach ist gratis. Noch eine stillgelegte Kirche, aus dieser wuchs nur ein Bäumchen heraus.

„For Cheetham. For Humanity & FOR GAZA“

An vielen Auslagen waren Wahlplakate aufgehängt. Nie von den Tories, nie von anderen Parteien rechts der Mitte, aber auch die amtierende Labour-Abgeordnete Shazia Butt wurde im schwer einsehbaren Fenster eines ersten Stocks versteckt. Beliebt waren Kandidaten links von Labour. Gelegentlich klang noch die Lokalwahl nach mit dem Slogan: „Gegen unfaire Luftreinhaltezonen-Gebühren!“ Das stärkste Thema aber war Gaza. Man hatte „Emergency for Gaza“ und „For Cheetham. For Humanity & FOR GAZA“ plakatiert. Parham Hashemi von der Workers Party warf dem Labour-Unterhausabgeordneten des Wahlkreises vor, sich bei einer Abstimmung über eine Waffenruhe enthalten zu haben. Es gelte die Devise: „For Britain! For Gaza!“

Kurz vor Ladenschluss um acht fragte ich die Halal-Metzger, wie der Termin um zehn im Rathaus verlaufen war. Die älteren pakistanischen Mitarbeiter sprachen so schlecht Englisch, dass sie einen befreundeten jüngeren Pakistani zum Dolmetschen holten. Auch dieser war kein Easyspeaker: „Ich bin zwar seit 15 Jahren hier, brauche Englisch aber kaum. Ringsherum sprechen 95 Prozent Urdu und Hindi, und den Kebab gegenüber betreibt ein Kurde.“ Den Straßenstand gebe es schon seit Monaten, erfahre ich schließlich. Der größere Halal-Fleischer mit seinem größeren Straßenstand nebenan habe die auf zwei Meter herangerückte Billigkonkurrenz aber verklagt. Die Pakistani meinten, der Termin um zehn heute früh hätte vor Gericht stattgefunden. Und sie glaubten, sie hätten gewonnen.