Griechenland | Griechenland: Die EU wurde um Agrargelder in Größenordnungen betrogen
Wundersames und Seltsames trägt sich in Griechenland zu, zum Beispiel vermehren sich landwirtschaftliche Nutztiere wie aus dem Nichts. So hat sich zwischen 2016 und 2022 die Zahl der Schafe auf Kreta mehr als verdoppelt. Das geht zumindest aus staatlichen Unterlagen hervor, die für den gleichen Zeitraum von weiteren merkwürdigen Entwicklungen künden. Demnach sollen die Hänge des Berges Olymp mit Bananenplantagen bedeckt sein.
Aus hochgesicherten Militärflughäfen wurden Olivenhaine, und das Weideland für Ziegen und Lämmer erstreckt sich jetzt über das Land hinaus bis in die kristallklaren Tiefen der umliegenden Meere. Alle diese Angaben sind genauso lächerlich wie aufschlussreich. Sie verweisen auf einen peinlichen Skandal und enthüllen, dass jahrelang enorme Summen an EU-Geldern von Personen in die eigene Tasche gesteckt wurden, die diese als Subventionen für landwirtschaftliche Aktivitäten beantragt hatten, die es gar nicht gab. Sei es in der Vieh- oder Olivenzucht.
Ein Drittel des EU-Haushalts – mehr als für Bildung, Wohlfahrt und erneuerbare Energien vorgesehen ist – fließt in die Subventionierung der Landwirtschaft von Mitgliedsstaaten. Je mehr Tiere es gibt, desto mehr Land wird ihnen zum Weiden zugewiesen, desto mehr Geld fließt. Allein an Griechenland werden Subventionen aus Brüssel in Höhe von zwei Milliarden Euro pro Jahr verteilt.
Auf den ersten Blick könnte der „OPEKEPE-Skandal“ – benannt nach dem Akronym der staatlichen Behörde in Griechenland, von der die Vergabe der EU-Agrarsubventionen überwacht wird – als Racheakt gedeutet werden. Über ein Jahrzehnt nach einer Finanzkrise, in der EU-Technokraten griechischen Bürgern demütigende Sparmaßnahmen auferlegten, begannen kretische Bauern, Millionen imaginärer Schafe zu erfinden und Geld aus Brüssel zurückzuerschwindeln.
Mitsotakis im Zwielicht
Das klingt nach einer verführerischen Interpretation, ist aber fehl am Platze. In Wirklichkeit steckt hinter dem „OPEKEPE-Skandal“ die gleiche politische Elite, die Griechenland einst in eine katastrophale Haushaltslage gebracht hat. Seit 2020 läuft eine EU-Untersuchung gegen OPEKEPE, die von der Europäischen Staatsanwaltschaft (EPPO) in Luxemburg vorangetrieben wird. Sie wirft der Behörde vor, sich auf systematische Weise zu Unrecht Geld angeeignet zu haben. Womöglich bereits seit 1998, aber verstärkt, seit die Mitte-rechts-Partei Nea Dimokratia 2019 Regierungsverantwortung übernommen hat.
Seither wurden die Agrarbilanzen gnadenlos gefälscht und Prüfer umgangen, indem neue Agrarflächen in einem Jahr auf eine Person registriert und im nächsten – auf dem Papier – einer anderen übertragen wurden. Statistiken hat man derart frisiert, dass plötzlich die Hälfte aller griechischen Schafe auf der Insel Kreta weiden müsste. Es fiel freilich auf, dass diese auf so wundersame Weise vermehrten Bestände nur ein Zehntel der Schafsmilch des Landes produzieren. Und auf Inseln, die vom Feuer gezeichnet oder von Dürre heimgesucht waren, stiegen die Bienenpopulationen auf mehr als das Doppelte.
Zwei früheren Ministern wird nun jahrelange Beihilfe beziehungsweise Anstiftung zur Veruntreuung von EU-Agrargeldern vorgeworfen. Die vielen betrügerischen Aktivitäten werfen unweigerlich Fragen auf. Wo ist das Geld geblieben? Wer hat profitiert? Die Ermittlungen werden unter EPPO-Chefin Laura Codruța Kövesi vorangetrieben, die sich in Brüssel einen Namen gemacht hat, nachdem sie als Generalstaatsanwältin der rumänischen Antikorruptionsbehörde mit aller Härte gegen die korrupte politische Klasse ihres Landes vorgegangen ist. Hunderte Rumänen kamen bei dieser umfassendsten Antikorruptionskampagne der jüngeren europäischen Vergangenheit in Haft.
Fest steht bereits, dass die in Athen regierende Nea Dimokratia – die dynastische alte Maschine der griechischen Rechten – tief verstrickt ist. Dreizehn ihrer Parlamentsabgeordneten haben sich an den Betrügereien von OPEKEPE beteiligt, ebenso jeweils ein Abgeordneter der Parteien Pasok und Syriza. Ein Minister und vier stellvertretende Minister sahen sich gezwungen, zurückzutreten. Kyriakos Mitsotakis, Premierminister und Chef der Nea Dimokratia, erklärte, er habe „nichts zu verbergen“, und versicherte, allem auf den Grund zu gehen.
Doch sträubt er sich gegen eine parlamentarische Untersuchung ohne Wenn und Aber, die auch ihn nicht verschonen könnte. Ein Regierungssprecher verteidigte das mit dem Argument, Mitsotakis sei nicht verpflichtet, auf „sein historisches Recht“ zu verzichten, EU-Finanzierungshilfen in Anspruch zu nehmen. „Was für jeden Grundbesitzer gilt, gilt auch für ihn.“
„Wem wollen Sie etwas vormachen, Herr Mitsotakis?“, fragte im August Nikos Androulakis, Vorsitzender der oppositionellen Pasok im Parlament. „Herr Mitsotakis ist entweder mitschuldig“, heißt es in einer Erklärung der Partei Syriza, „oder er wird von seinen Ministern erpresst.“ Der Skandal zeige mit aller Deutlichkeit, wie das Machtsystem in Griechenland gegen „Störfälle“ vorgeht. Drei leitende OPEKEPE-Mitarbeiter, die finanzielle Unregelmäßigkeiten festgestellt hatten, wurden suspendiert. Einer, nachdem er versucht hatte, gut 3.500 verdächtige Subventionsanträge zu blockieren.
Einen anderen traf es, nachdem er etwa 9.000 Auszahlungen storniert hatte. Selbst als klar wurde, dass europäische Behörden den Betrug aufdecken könnten, wurde in Athen darauf bestanden, dass betrügerische Zahlungen genehmigt wurden. Als EU-Inspektoren nach Kreta kamen, wurden die Bauern vorab gewarnt. Außerdem waren sie angewiesen, Schafherden an verschiedene Orte zu bringen, um den Anschein zu wahren.
Die Insel mit EU-Subventionen buchstäblich zu überschütten, scheint einen beträchtlichen Teil der Nea-Dimokratia-Wähler sehr glücklich gemacht zu haben. Tatsächlich kam es 2023 zu einer der erschütterndsten Umwälzungen in der griechischen Parteienlandschaft seit Langem. Kreta – früher eine Hochburg der Linken – wechselte zur Nea Dimokratia. Ein Regierungssprecher äußert sich dazu wie folgt: „Dass es eine Verbindung gibt zwischen den Betrügern, gegen die ermittelt wird, und einem bestimmten Wahlergebnis, das ist reine Spekulation. Man könnte auch sagen: Science-Fiction.“
Nennen wir diesen Skandal ruhig, was er letzten Ende ist: ein weiterer finanzieller Schlag, für den wieder einmal der griechische Steuerzahler aufkommen muss. Die von Brüssel bereits verhängte Strafe von 415 Millionen Euro wird den am härtesten arbeitenden und dennoch am drittschlechtesten bezahlten EU-Bürgern aufgeladen. Um den Betrag aufzubringen, müssten zehn Millionen Griechen jeweils acht Stunden zum Mindestlohn arbeiten. Zugleich werden weitere Geldstrafen erwartet, da die europäische Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ausgeweitet hat.
Seit sechs Jahren inzwischen versichert Mitsotakis den griechischen Wählern, dass er jahrzehntelang vererbte Missstände im griechischen Staat beseitigen wolle. Er spricht von einer technokratischen Reform, einem „neuen Griechenland“, das aus den Tiefen der finanziellen Zerstörung und des Managementchaos herausgeholt werde.
Aber eine Krise nach der anderen offenbart, dass diese Zusicherungen ohne Gewähr sind. 2022 war Mitsotakis’ Neffe nach der Aufdeckung einer lächerlichen Spyware-Operation gezwungen, als Generalsekretär zurückzutreten. Dann machten Spekulationen die Runde, dass er zwei Jahre später in das Amt seines Onkels wechseln werde, was sich nicht bewahrheitete.
2023 musste der Minister für Infrastruktur und Transport nach einem Zugunglück abdanken, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen, weil Warnungen wegen mangelnder Sicherheit der griechischen Bahn ignoriert wurden. Der Ex-Minister übernahm wieder seinen früheren Abgeordnetensitz, als sich die Aufregung über die Havarie gelegt hatte. Derartige Skandale wirbeln viel Staub auf, letzten Endes aber wird nicht die politische Klasse als das Problem gesehen, wenn Politiker ungerührt die Ämter wechseln. Vielmehr gelten die Griechen selbst als das Problem, wenn sie Konsequenzen von denen fordern, die stets predigen, es gebe eine Rechenschaftspflicht.
Griechenland ist ein Staat, mit dem sich die Erzählung vom strahlenden Wohlstand in einem boomenden Technologiezentrum nicht erfüllt hat. Es kommt auf frustrierende Weise hinzu, dass die Korruption das Vertrauen der Bürger in die Finanzinstitutionen weiter untergräbt. Das ist kein Fantasieprodukt, sondern blamable Realität.
Alexander Clapp arbeitet als freier Journalist in Athen Übersetzung: Carola Torti