Geschichte | „Zeit ohne Gefühle“ an Münchner Kammerspielen: Angefangen hat alles mit einem Bild

Grüne Hügel, blauer Himmel, Sonnenschein über dem See – das Bühnenbild ist ein malerisches bayerisches Idyll, ein scharfer Kontrast zur Geschichte, die hier erzählt wird und die die wenigsten Menschen in Bayern wie in Deutschland kennen: die der nationalsozialistischen Reichsschule in Feldafing, nach Kriegsende das größte DP-Camp (kurz für Displaced Persons) für jüdische Geflüchtete in der US-Besatzungszone.

Hier setzt die Geschichte Mordechai Teichners ein. Aber es ist nicht nur seine Geschichte. Auf den Vorhang wird der Satz projiziert: „In dem Stück kommen wir alle vor.“ Eine paradigmatische Präambel für ein Stück, das alle in die Verantwortung nimmt. Zeit ohne Gefühle, die neue Arbeit der Regisseurin Christine Umpfenbach, ist ein Auftragswerk der Münchner Kammerspiele an die Autorin Lena Gorelik und setzt sich mit der (Über-)Lebensgeschichte Mordechai Teichners im Holocaust auseinander.

Ein Ferienort im NS

Die Inszenierung fragt, wie man Geschichte überhaupt noch erzählen kann, wenn Stimmen von Zeitzeugen in Archiven verschwinden und Geschichten vergessen werden. Doch wie erzählt man einen Abend, der gleichzeitig von der Reichsschule, anschwellendem Antisemitismus und kollektiver Erinnerungskultur erzählt? Und wie geht man als Regisseurin sensibel mit derartigen Reproduktionen um?

Man kann die Geschichte von Mordechai nicht ganz ohne Tätersprache dokumentarisch einordnen und erzählen. Doch das funktioniert anders als in anderen Stücken, die Christine Umpfenbach bisher inszeniert hat. Umso wichtiger war für sie, inszenatorische Rücksprache mit dem Ensemble zu halten und die Figureneinteilung zu besprechen: „Die Schauspieler wechseln ständig die Rollen“, erzählt sie im Gespräch. „Mal sind sie Täter, mal Opfer. Sie sind sozusagen alles auf einmal. Das verändert, wie wir überhaupt über Geschichte sprechen.“ Das Theater wird zum Ort der Auseinandersetzung – trotz Nachahmungs- und Abbildungseffekten. Es geht um Sprache, Verantwortung und die Möglichkeit, Geschichte performativ zu befragen – jenseits des Pädagogischen. Das Publikum muss hart arbeiten, das war auch der Wunsch der Regisseurin.

Bevor das Stück Mordechais Leben vom DP-Camp bis zur Emigration nach Israel erzählt, kommt es zum diskursiven Prolog: „Wer kann wen spielen?“ und „Darf man als Nicht-Jude einen Juden spielen?“ sind Teile der szenischen Dialoge, die klischeebereit die Absurdität vieler Fragen, aber auch ihre Lücken aufzeigen: „Der Text ist ja von einer Jüdin geschrieben – also wird das schon okay sein.“ Der Abend erlaubt sich Komik, ist aber zu keinem Zeitpunkt belanglos. Es entsteht ein feinfühliges Theater, das sich selbst beobachtet, seine eigene Position hinterfragt und tief in die Ambivalenzen seiner Aufarbeitung fasst – und darüber hinaus zwischen dem Bild eines bayerischen Ferienortes und der Arbeitslagerrealität während des Nationalsozialismus changiert.

Der erzählende Text weicht von Umpfenbachs sonstiger Theaterpraxis stark ab: „Es kommen sehr viele Dokumente vor.“ Im Text selber sei das nicht unbedingt nötig gewesen, sagt sie, „weshalb das für mich eine Herausforderung gewesen ist, da sie“, gemeint ist Lena Gorelik, „eben nicht dokumentarische Beobachtungen aneinander montiert, sondern Zitate wie Kommentare eingebaut hat.” Der Text zeichnet sich vor allem durch überlappende Szenen, zeitliche Sprünge und Querverweise aus – immer mit kritischer Einordnung, auch durch eine Kostümierung, die aufgrund der Schwere des Dargestellten beinahe hilflos erscheint.

Anlass für Umpfenbachs Recherche zur Lebensgeschichte Mordechais war deren Begegnung 2015 im Rahmen eines künstlerischen Austauschs am Mozarteum Salzburg. Angefangen hat alles mit einem Bild: der 15-jährige Mordechai Teichner, fotografiert in Feldafing. Es sei die Ambivalenz dieses Bildes gewesen, die sie zur weiteren Recherche inspiriert habe: „Er trägt KZ-Hosen, dann dieses NS-Hemd und diese Mütze von einem Offizier der Luftwaffe“, beschreibt sie das Bild, das auch im Stück zu sehen ist.

Dass dieser Abend an den Kammerspielen aus der Idee und Begegnung der beiden entstehen würde, war 2015 nicht abzusehen. Während der Recherche ist Mordechai 2022 verstorben, Kontakt hatte Umpfenbach dann zu seinem Sohn, Meir Teichner. Für ihn sei es sehr interessant gewesen, an Orte wie Feldafing zu gehen, wo sein Vater war, er erfuhr mehr über ihn, als er zu Lebzeiten gewusst habe.

Meir kommt auch im Stück vor, allerdings nicht als Performer. Wäre das aber nicht die ultimative Konsequenz des Dokumentartheaters? „So etwas ist immer wünschenswert“, erklärt die Regisseurin, „die Umsetzbarkeit dessen hat allerdings auch viel mit den Strukturen der Theater hinter den Inszenierungen zu tun.“ Nicht immer ist das, gerade aufgrund der zahlreichen Aufführungen, des zeitlichen Aufwande, aber vor allem der psychischen Belastungen, möglich.

Das Stück stellt die verheerenden Auswüchse nationalsozialistischen Gedankenguts, das nicht nach Kriegsende einfach verschwunden ist, sinnhaft aus. Wiederkehrende Motive beschäftigen sich mit der Neuen Rechten, mit L’amour toujours und Faschismus. Die Parallelen zwischen der NS-Sprache und heutigen rechten Narrativen werden präzise offengelegt anhand von Originalzitaten, montiert mit Reden heutiger Politiker:innen. Umpfenbach beschreibt diesen Effekt so: „Viele Leute können gar nicht unterscheiden, ob ein Satz von damals oder von heute ist. Das finde ich gefährlich. Und das ist der Punkt: Wir müssen aufpassen.“

Das Stück wird so zum Kommentar über die politische Sprache der Gegenwart – über die AfD, Diskriminierung und Antisemitismus. Ein kluger Text, der nicht immer auf Verständlichkeit pocht, aber Überforderung gelungen zur Methode macht. Trotzdem bleibt die Frage im Raum: Wie viel Wiederholung braucht es, um zu erinnern? „Wir wollten das nicht beliebig einsetzen“, sagt Umpfenbach, „aber man muss zeigen, dass die Sprache von damals nicht verschwunden ist.“

Zeit ohne Gefühle demonstriert in herausragender Weise, was Dokumentartheater leisten kann: Journalistisch und poetisch setzt es ein politisches Signal gegen Geschichtsvergessenheit und Wiederholung, aber für genaues Hinhören. „Die Verantwortung liegt jetzt bei uns. Wir müssen lernen, Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern zu verstehen. Das ist schwer, weil die Gesichter sich verändert haben: Nazis tragen heute vielleicht Zöpfe, bunte Hemden, sprechen ruhig und lächeln dabei. Man erkennt sie nicht mehr auf den ersten Blick. Dieses Stück lehrt uns das: wachsam zu bleiben, in den Zwischentönen zu hören, wann Sprache kippt. Diese Zeit ist gefährlich“, betont Umpfenbach. Darin ist ihr zuzustimmen.

Zeit ohne Gefühle Text: Lena Gorelik, Regie: Christine Umpfenbach Münchner Kammerspiele

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Der Freitag wird 35 Jahre alt!

Am 9. November 1990 erschien die erste Ausgabe des Freitag – einer Fusion des ostdeutschen Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. Mit dem Untertitel Die Ost-West-Wochenzeitung begleitete er die deutsche Einheit von Anfang an aus einer kritischen Perspektive.

Wir wollen bloß die Welt verändern: Mit unserem Ringen um die Utopien der Gegenwart, mit unserem lauten Streiten und Nach-Denken, mit den klügsten Stimmen und der Lust am guten Argument finden wir heraus, was es heißt, links zu sein – 1990, die vergangenen 35 Jahre, heute und in Zukunft.

Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.

Lesen Sie dies und viel mehr in der Jubiläumsausgabe der Freitag 45/2025 und feiern Sie mit uns!