Geopolitik: Ein neuer Wettlauf nachher Afrika

Herfried Münkler lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 als Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien von ihm „Welt in Aufruhr – Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert“ (Rowohlt, 2023).

Während alle wie gebannt auf den Ukraine- und den Gazakrieg schauen, finden, weithin unbeachtet, in Afrika große geopolitische Veränderungen statt. Und das keineswegs in den Bürgerkriegen im Sudan, in Somalia oder im Gebiet der Großen Seen, auch wenn diese Kriege pro Tag und Woche vermutlich viel mehr Opfer kosten als die im Donbass und im Nahen Osten. Geopolitisch relevant sind die sich verstetigende chinesische Präsenz in großen Teilen Ostafrikas und der wachsende Einfluss Russlands in der Sahelzone. 

Afrika, in den zurückliegenden Jahrzehnten am Rande des die Europäer beschäftigenden Weltgeschehens gelegen, dürfte als geopolitischer Raum in den nächsten Jahrzehnten dramatisch an Bedeutung gewinnen. In Europa und Asien sowie auf dem amerikanischen Doppelkontinent sind die politischen Konstellationen weitgehend festgezurrt, weswegen selbst kleine gewaltsame Veränderungen hier schnell zu ebenso verlustreichen wie kostenintensiven Kriegen führen; in Afrika dagegen sind die politischen Konstellationen hochgradig veränderlich, und hier können Staaten, die von der Größe ihres Territoriums sowie der Bevölkerungszahl her ein Vielfaches der zurzeit so heftig umkämpften Räume in der Ostukraine oder im Nahen Osten darstellen, innerhalb kürzester Zeit die Seiten wechseln und sich an einen der großen weltpolitischen Akteure binden. Russland und vor allem China haben in Afrika zuletzt erheblich an Einfluss gewonnen; der Westen hingegen hat kontinuierlich an Terrain verloren.

Das ist vor allem für die Europäer bedrohlich, weil die afrikanischen Migrationsbewegungen infolge von Klimawandel und innergesellschaftlichen Kriegen nicht nach Russland oder China gehen, sondern nach Europa und dort zu Streit und Zerwürfnissen führen – was dann Wladimir Putin und Xi Jinping in die Hände spielt. Dabei ist festzuhalten, dass es nicht zuletzt das russische militärische Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg war, welches in den Jahren 2015 und 2016 zum dramatischen Anwachsen der Flüchtlingsbewegungen nach Europa geführt hat.   

Europa ist abhängig und erpressbar

Die russische Führung hat vermutlich nicht zu diesem Zweck die Angriffe ihrer Luftwaffe auf syrische Großstädte angeordnet, sondern zur Unterstützung des Assad-Regimes, aber sie hat mit Sicherheit beobachtet, dass die daraus resultierenden Flüchtlingsbewegungen zur Zerstrittenheit der Europäer geführt und die Handlungsfähigkeit der EU geschwächt haben. Daraus konnten sie lernen: Wer die Europäer politisch paralysieren will, muss Flüchtlingsbewegungen in den EU-Raum in Gang setzen. In der Regel kostet das Putin so gut wie nichts und hat den Effekt, dass die Europäer über Jahre hinweg mit sich selbst beschäftigt sind. Die massive Präsenz russischer Söldnerverbände in der Sahelzone lässt von daher Schlimmes befürchten.

Und die Europäer selbst? Eine kohärente Afrikastrategie hat die EU nicht. Sie versucht zurzeit, mit einzelnen Staaten der Maghreb-Region Verträge nach dem Vorbild des EU-Türkei-Abkommens auszuhandeln, die vorsehen, dass diese Staaten die von ihren Küsten ausgehende Migration über das Mittelmeer nach Europa begrenzen, wofür die Europäer ihnen im Gegenzug logistische Unterstützung und Geldzahlungen anbieten. Europa ist dabei in einer schwachen Position, weil es abhängig und erpressbar ist. Leicht ist vorherzusehen, dass die Forderungen von Ägypten bis Marokko wachsen und die Zahlungen an die Herrscher auf der anderen Seite des Mittelmeers kontinuierlich ansteigen werden, ohne dass die illegale Migration dadurch unterbunden wird. 

Im besten Fall wird sie entschleunigt und ausgedünnt. Zu Ende gehen wird sie nicht, zumal das ja ein Geschäftsmodell der nordafrikanischen Länder ruinieren würde. Von den Interessen Russlands als neuer Schutzmacht der Militärregime in der Sahelzone ganz zu schweigen. Die französische Politik hatte bis vor Kurzem darauf gesetzt, dass ihre postkolonialen Beziehungen nach Westafrika ausreichen würden, um Einfluss auf die dortige Entwicklung zu haben. Doch zuletzt hat sich gezeigt, dass die antikolonialen Ressentiments sich von den durch Putsche an die Macht gekommenen Militärs leicht nutzen ließen, um die französischen (und deutschen) Soldaten aus der Sahelzone hinauszuwerfen.