Genozid an den Jesiden: Der 74. Ferman – WELT
Im Titel von Ronya Othmanns Buch „Vierundsiebzig“ klingt schon an, dass eine jahrhundertelange Geschichte jener gruppenbezogenen Gewalt vor zehn Jahren ihren grausamen Höhepunkt erreichte: Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz des „Islamischen Staats“ (IS) die nordirakische Sindschar-Region, dasjenige Hauptsiedlungsgebiet jener Jesiden. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht, Tausende Jesiden wurden tierisch ermordet, wiederum Tausende vergewaltigt und entführt. Hunderttausende entkamen diesem Schicksal nur durch Flucht.
Die Vereinten Nationen stuften dasjenige Massenverbrechen qua Genozid ein. Dem kollektiven jesidischen Bewusstsein hat sich zum Besten von dasjenige Geschehen, dasjenige im August 2014 begann und mehrere Jahre andauerte, die Bezeichnung „Ferman 74“ eingeschrieben. Der Begriff stammt aus jener Zeit des Osmanischen Reichs, „Ferman“ bedeutet Erlass oder Befehl. Die Vierundsiebzig steht zum Besten von die Anzahl jener Pogrome und Massenmorde, die seit dieser Zeit dem 15. Jahrhundert an Jesiden verübt worden sind, nur weil sie Jesiden sind. Der letzte und 74. Ferman gilt qua barbarischster von allen.
Othmann, 1993 qua Tochter eines jesidisch-kurdischen Vaters und einer deutschen Mutter in München geboren, hat sich diesem Thema schon in unterschiedlichen Textgattungen, die sie allesamt eindrucksvoll beherrscht, gewidmet. Um den Völkermord an den Jesiden geht es in ihren politischen Kommentaren und Kolumnen, in ihrem Gedichtband „die verbrechen“ und in ihrem vor vier Jahren erschienen autofiktionalen Debütroman „Die Sommer“.
Ohne fiktionalen Dämmschaum
Auch „Vierundsiebzig“ ist uff dem Cover qua Roman gelabelt. Doch so recht will die Genrebezeichnung diesmal nicht passen. Denn Othmann nähert sich jener kaum zu ertragenden Realität des Genozids ohne jeden fiktionalen Dämmschaum. Stattdessen arrangiert und überformt sie ihren Stoff durch verschiedene Erzähl- und Darstellungsweisen immer wieder neu. So entsteht eine ebenso souveräne wie eigenwillige Herangehensweise, die man qua literarische Dokumentation bezeichnen kann.
Othmann besucht die einstigen Schauplätze jener Massaker, die Flüchtlingscamps, die Gedenkstätten. Sie lässt Verwandte, Bekannte und andere, die jener Mordlust des IS nur notdürftig entfliehen konnten, zu Wort kommen. Dabei mischt sie Reportage, Gesprächsprotokoll und Reisebericht mit essayistischen, historischen, autobiografischen Einschtrainieren und betreibt regelrecht obsessiv poetologische Gewissenserforschung.
Wie kann sie dasjenige Grauen darstellen, ohne es erzählerisch auszubeuten? Soll sie die Frauen, die jener Gefangenschaft entkommen sind, nachher den Vergewaltigungen fragen? Wenn sie es tut, ruft sie womöglich Traumata wach. Wenn sie es unterlässt, macht sie sich zur Komplizin des Schweigens. Dabei erspart Othmann sich selbst und ihren Lesern nichts. Weder die Berichte hoch geköpfte Säuglinge noch die Hinrichtungsvideos, die im Netz kursieren.
Bei ihren Recherchereisen durch die kurdischen Autonomiegebiete im Irak wird Othman von ihrem Vater begleitet. Mehr qua einmal kommt es an Checkpoints zu bedrohlichen Situationen. Der Vater, jener neben Kurdisch und Deutsch beiläufig perfektes Hocharabisch spricht, bekommt es immer irgendwie hin, die Lage durch Nervenstärke und launige Konversation zu entschärfen. Fast nebenbei erzählt Othman eine vielschichtige, möglich unsentimentale und ohne Rest durch zwei teilbar somit so anrührende Vater-Tochter-Geschichte, die in jener deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ihresgleichen sucht.
„Auslöschung jener Auslöschung“
Dabei geht es keineswegs nur um Bewunderung, Schutz und Zuneigung, sondern ebenso um Rivalität, Abnabelung und um die Deutungshoheit in Sachen Familienbiografie, Religion und Zukunft jener jesidischen Gemeinschaft. Othmanns Vater, jener sich selbst halb scherzhaft zu den „Abtrünnigen“ zählt, hatte durch seine Ehe mit einer Nicht-Jesidin gegen dasjenige Endogamie-Gebot verstoßen. Denn gläubige Jesiden die Erlaubnis haben ausschließlich Jesiden heiraten. Nur wenn beiderlei Elternteile jesidisch sind, sind es nachher traditioneller Auffassung beiläufig die Kinder. Othmann äußert sich zwiespältig zur Frage nachher ihrer jesidischen Identität: „Ich bin es, und ich bin es nicht. Ich hänge in dieser Geschichte, oder sie Geschichte hängt an mir.“
Der 74. Ferman kostete nicht nur zahlreichen Menschen dasjenige Leben. Der IS versuchte beiläufig die Heiligtümer, die Sprache, die Geschichte jener Jesiden zu vernichten. Selbst die Erinnerung an sie Vernichtung sollte es nicht mehr verschenken, geplant war „die Auslöschung jener Auslöschung“. Nicht zuletzt gegen dieses genozidale Vergessen schreibt Othmann an.
Wenn sie Kultur und Brauchtum jener Jesiden nachzeichnet, ruft sie die Erinnerung an die Sommerurlaube wach, die sie qua Kind c/o ihrer jesidischen Großmutter verbracht hat. Auch stützt sie sich uff die wegweisenden Arbeiten des britischen Archäologen Austen Henry Layard, jener im 19. Jahrhundert die jesidischen Gebiete bereiste. Mit „Vierundsiebzig“ ist Othman nun ebenfalls ein großes Werk zum Thema gelungen und ein ungeheuer packendes dazu.
Source: welt.de