Generalstreik in Deutschland: Warum er verboten ist – und wie sich dasjenige ändern könnte
Wenn anderswo, wie jüngst in Italien, lohnabhängig Beschäftigte zum Generalstreik mobilisiert werden, kommt unter an Klassenkampf Interessierten regelmäßig die Frage auf: Warum eigentlich nie bei uns?
Die Erklärungen fallen oft verkürzt und essentialistisch aus: andere „Streikkultur“ in Südeuropa, „die“ Franzosen sind nun mal radikaler, die Deutschen an sich revolutionsunbegabt, das wusste schon Lenin …
Angesichts von zwei Novemberrevolutionen allein im 20. Jahrhundert ist das zwar ohnehin fragwürdig. Aber es lässt auch einen simplen Fakt außer Acht: nämlich den, dass in der Bundesrepublik ein ziemlich restriktives Streikrecht herrscht. Anders als in Italien, Frankreich, Belgien oder Griechenland ist ein Generalstreik schlicht illegal, ebenso wie jeder politische und verbandsfreie, sogenannte „wilde“ Streik.
Deshalb hat der letzte deutsche Generalstreik am 12. November 1948 in der damaligen Bizone stattgefunden, also vor Inkrafttreten des Grundgesetzes. Auch der 17. Juni 1953 in der DDR war wohl einer, aber das ist eine andere Geschichte. Heute darf hierzulande jedenfalls nur streiken, wer im Rahmen einer Tarifrunde von einer Gewerkschaft dazu aufgerufen wird.
Oder?
Kürzlich schlug der Autor Marco Höne im Freitag einen ostdeutschen Generalstreik vor und schrieb, dass ein solcher verfassungsrechtlich ja nicht ausgeschlossen, sondern lediglich durch Richterrecht eingeschränkt und damit verhandelbar sei. Das stimmt einerseits und ist zugleich eine recht optimistische Deutung. Ein kurzer Blick in die Geschichte des bundesrepublikanischen Streikrechts soll dabei helfen, zu ermessen, inwiefern dieser Optimismus angebracht ist.
Kein individuelles Streikrecht – auch dank des DGB
Die Herausbildung des westdeutschen Streikrechts ist eng verflochten mit der Entstehung der postnazistischen Sozialpartnerschaft. Das 1949 verabschiedete Grundgesetz garantiert in Artikel 9 Absatz 3 die Koalitionsfreiheit, also das Recht, Gewerkschaften sowie Arbeitgeberverbände zu bilden. Ein ausdrückliches Streikrecht hat es dagegen nicht in die Verfassung geschafft. Anders als etwa in Frankreich, wo das Streikrecht ein (individuelles) Grundrecht ist. Dabei lag ein entsprechender Vorschlag – „Das Recht der gemeinschaftlichen Arbeitseinstellung (…) wird anerkannt“ – bei Ausarbeitung des Grundgesetzes sogar auf dem Tisch.
Kein Geringerer als Hans Böckler intervenierte gegen eine Aufnahme des Streikrechts als Grundrecht in die Verfassung
Ausgerechnet die Gewerkschaften reagierten darauf mit Widerspruch. Kein Geringerer als Hans Böckler – damals DGB-Vorsitzender – intervenierte gegen eine Aufnahme des Streikrechts als allgemeines Grundrecht in die Verfassung, indem er an Konrad Adenauer schrieb, dass eine solche Formulierung „die unerwünschten wilden Streiks begünstigen“ könnte.
Sein Gegenvorschlag, der das Streikrecht auf die Gewerkschaften beschränkte („Das Streikrecht der Gewerkschaft ist gewährleistet“), schaffte es dann allerdings auch nicht in den Gesetzestext. So blieb es bei der Koalitionsfreiheit – die konkrete Ausgestaltung des daraus abgeleiteten Streikrechts wurde den Gerichten überlassen. Wie Marco Höne richtig schreibt: Es sind im Wesentlichen Urteile, Richterecht, nach denen bestimmt wird, wer in Deutschland wann und wie streiken darf.
Das hätte auch gut gehen können: In Belgien etwa hat das Streikrecht ebenfalls keinen Verfassungsrang, und dort wird es sehr viel großzügiger ausgelegt als hierzulande. Politische Streiks etwa sind legal.
Wie ein Nazi-Jurist das deutsche Arbeitsrecht prägte
In Deutschland indes fiel die Ausgestaltung nicht gerade zugunsten der Lohnabhängigen aus. Auch, weil die Arbeitgeberseite mithilfe der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in den 1950er Jahren gezielt auf Grundsatzurteile hinwirkte. So fielen von diesen zunächst vor Landesarbeitsgerichten und ab 1954 vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) mehrere im Sinne der Arbeitgeber aus – und wirken bis heute nach.
Bereits 1952 hatte ein Gutachten des Nazi-Juristen Hans Carl Nipperdey zum Zeitungsstreik der Drucker und Setzer – die IG Druck und Papier hatte sie im Mai 1952 gegen das Betriebsverfassungsgesetz in den zweitägigen Streik geschickt, woraufhin die Druckereien und Verlage vor Gericht zogen, um Schadensersatz zu erzwingen – die Grundlage für das Verbot von politischem Streik gelegt. Der Zeitungsstreik wurde von fast allen Gerichten, vor denen geklagt worden war, für rechtswidrig erklärt.
Während des Faschismus war Nipperdey einer der Mitverfasser des Gesetzes „zur Ordnung der nationalen Arbeit“ gewesen, das Führerprinzip und klassenübergreifende „Betriebsgemeinschaft“ in den Unternehmen verankerte. In dieser ideologischen Tradition stehend beschränkte dann schließlich auch das BAG, dessen erster Präsident Nipperdey 1954 wurde, 1955 das Streikrecht auf „tariflich regelbare Ziele“ und untersagte 1963 obendrein „wilde“ Streiks.
Auch nach Nipperdey restriktive Auslegung des Streikrechts
Das BAG erkannte dann zwar 1980 – also lange nach Nipperdeys Zeit, in der Streiks grundsätzlich als „unerwünscht“ betrachtet wurden – in einem weiteren Grundsatzurteil zur „Herstellung und Wahrung des Verhandlungsgleichgewichts im Arbeitskampf“ explizit an, dass Tarifverhandlungen „ohne das Recht zum Streik im Allgemeinen nicht mehr als ‚kollektives Betteln‘“ wären. An der exklusiven Gewährung des Streikrechts für Gewerkschaften und im Rahmen von Tarifverhandlungen hat sich aber bis heute nichts geändert.
Das 1986 als Reaktion auf den Streik für die 35-Stunden-Woche novellierte Arbeitsförderungsgesetz erhöhte zudem das finanzielle Risiko für Gewerkschaften dramatisch. 1984 hatte die IG Metall für die Einführung der 35-Stunden-Woche gestreikt, woraufhin es seitens der Unternehmen auch zu kalten Aussperrungen kam – also Aussperrungen in nur indirekt betroffenen Betrieben. Die Arbeitgeber schlossen dabei Beschäftigte von der Arbeit aus, verweigerten ihnen Lohn und versuchten so, Druck auf die Gewerkschaften auszuüben.
An der exklusiven Gewährung des Streikrechts für Gewerkschaften und im Rahmen von Tarifverhandlungen hat sich aber bis heute nichts geändert
Da die ausgesperrten Kolleg*innen keinen Anspruch auf Streikgeld hatten – sie waren ja nicht selbst im Streik – und sich die Gewerkschaft dies auch kaum hätte leisten können, beantragten sie beim Arbeitsamt Kurzarbeitergeld. Diese Möglichkeit wurde 1986 durch die schwarz-gelbe Koalition gesetzlich beschnitten, was bestimmte Streiks zumindest erschwert hat.
Es gibt zudem weitere Einschränkungen: Beamt*innen dürfen nicht streiken. Die GEW ist kürzlich erst damit gescheitert, dies vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Fall zu bringen. Und aufgrund des gesonderten kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland ist es den fast zwei Millionen bei kirchlichen Trägern Beschäftigten ebenfalls kaum möglich, die Arbeit niederzulegen.
Schrittweise Erweiterungen des Streikrechts von unten
Lässt sich daran nun etwas ändern?
Dass die großen Gewerkschaften zu einem Streik, noch dazu einem Generalstreik blasen werden, der juristisch nicht wasserdicht ist, ist höchst unwahrscheinlich. Das allerdings müssten sie tun, um beispielsweise das Verbot des politischen Streiks vor Gericht und damit zu Fall bringen zu können – hier beißt sich die Katze also in den Schwanz. Dass sich die Spitzenfunktionär*innen der DGB-Gewerkschaften oft selbst als Ordnungsfaktor verstehen und zudem aus Angst vor Haftung und immensen Schadensersatzforderungen davor zurückschrecken, die eng gesteckten juristischen Grenzen zu überschreiten, ist dabei ein schwer auflösbares Problem.
Noch unwahrscheinlicher ist allerdings, dass eine deutsche Regierungskoalition sich theoretisch überzeugen lassen wird, Arbeiter*innen zu ermächtigen. Ohne echten Druck hat sich eigentlich noch nie irgendwo etwas getan bei Arbeiterechten – wer sie erweitern möchte, muss also den mühsamen Weg gehen, einen solchen Druck innerhalb der Gewerkschaften aufzubauen, damit diese mutiger werden.
Nicht vergessen werden sollte dabei, dass es in der Geschichte der BRD durchaus auch größere politische Streiks gab – etwa 1996 für den Erhalt der hundertprozentigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wobei die großen Gewerkschaften damals nicht offiziell dazu aufriefen, es handelte sich also genau genommen um politische und verbandsfreie Streiks.
Dass die großen Gewerkschaften zu einem Streik, noch dazu einem Generalstreik blasen werden, ist höchst unwahrscheinlich
Echte Erweiterungen des Streikrechts „von unten“ fanden in den letzten Jahren überdies statt, indem Kolleg*innen das Repertoire der „tarifierbaren Ziele“ vergrößerten. Das etwa ist der Krankenhausbewegung gelungen, die ihren Anfang vor über zehn Jahren an der Berliner Charité nahm und die – durch Organisierung, eine innergewerkschaftliche Auseinandersetzung, schließlich Arbeitskampf und dann vor Gerichten – erreicht hat, dass Personalbemessung Gegenstand von Tarifverhandlungen sein kann. Daher sind heute Streiks für mehr Personal im Krankenhaus legal möglich.
Beim „wilden Streik“ waren und sind es dagegen meist prekär beschäftigte Arbeiter*innen, die die Grenzen immer wieder überschreiten – die DGB-Gewerkschaften agieren hier eher als Wahrer ihres Streikmonopols – und sie mitunter verschieben. Gerade dann, wenn sich die Beschränkungen des Rechts auf Streik mit den Realitäten vieler Arbeiter*innen nicht mehr in Einklang bringen lassen.
Beim wilden Streik waren und sind es dagegen meist prekär beschäftigte Arbeiter*innen, die die Grenzen immer wieder überschreiten
Die bekanntesten Beispiele dafür sind die wilden Streiks der ersten Generation von Gastarbeiter*innen in der Bundesrepublik, die 1973 ihren Höhepunkt erreichten: Von Februar bis Oktober streikten damals insgesamt 275.000 Beschäftigte in 335 Betrieben „wild“ gegen Akkordarbeit, schlechte Bezahlung, miese Wohnbedingungen oder Kündigungen. Seit einigen Jahren lässt sich erneut beobachten, dass vor allem migrantische Arbeiter*innen in Betrieben, in denen Sozialpartnerschaft nicht existent ist, gezwungen sind, auch ohne gewerkschaftliche Unterstützung zu streiken.
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Das bekannteste Beispiel ist der – inzwischen weiterverkaufte – Lieferdienst Gorillas. Auch die Lkw-Fahrer von Gräfenhausen (2023) oder die Erdbeerpflücker*innen in Bornheim (2020) folgten keinem gewerkschaftlichen Streikaufruf.
Geändert hat das an den rechtlichen Rahmenbedingungen zwar noch nichts, einige Ex-Rider von Gorillas haben allerdings bereits vor zwei Jahren den Klageweg beschritten und wollen durch die verschiedenen Instanzen gehen, um – zur Not auf europäischer Ebene – das deutsche Streikrecht zu erweitern. Ob sie damit Erfolg haben werden, wird sich erst noch entscheiden.
Monsterstreik statt Generalstreik?
Ein Generalstreik ist damit noch in weiter Ferne. Am nächsten kam Deutschland dem bisher wohl im Frühjahr 2023, als mehrere große Tarifrunden – im Öffentlichen Dienst, bei der Bahn, im Flugverkehr – parallel zueinander stattfanden und erstmalig gewerkschaftsübergreifend gemeinsame Streiktage geplant wurden. Dies hatte den Effekt, dass mehr als 100.000 Beschäftigte gleichzeitig streikten.
Darauf, Tarifverträge zeitgleich auslaufen zu lassen, können Gewerkschaften und ihre Mitglieder hinarbeiten – ganz legal und im Ergebnis dennoch recht wuchtig. Die Bild schrieb damals gewohnt alarmistisch, aber auch ein wenig beeindruckt von einem „Monster-Streik“. Das ist zwar noch kein Generalstreik, aber ein Monster-Streik in Ostdeutschland wäre ja auch schonmal was.