Gecancelt: König Lear in Zürich
Der Anfang ist gleichzeitig das Ende. „Wer von euch hat mich am meisten lieb?“ – Als King Lear (Rainer Bock) die Frage seinen drei Töchtern Cordelia, Goneril und Regan stellt, um sein Erbe „gerecht“ unter ihnen aufzuteilen, schaut er sie nicht an. Stattdessen fixiert er einen imaginären Punkt über dem Publikum, als übersehe er von dort die Gesamtheit seiner Gemächer, Bediensteten und Ländereien. Hinter ihm ragt ein riesiges Reiterdenkmal in die Höhe und überschattet seine Töchter, von denen er soeben die erste Performance des Abends fordert: einen Liebesbeweis, der in Wirklichkeit Zeichen ihrer Unterwerfung ist. Dass das Denkmal im Laufe der Machtwechsel und politischen Umwälzungen geköpft werden wird, ist freilich nur eine Frage der Zeit.
Während Goneril (Nancy Mensah-Offei) und Regan (Lea Sophie Salfeld) dem Vater gehorsam ihre Liebe vorspielen, verweigert Cordelia (Sasha Melroch) diese Darbietung. Sie erklärt, die Liebesprobe sei veraltet und als seine Tochter sei die Liebe eine Selbstverständlichkeit, weswegen sie sie nicht beweisen könne. Lear, erzürnt über ihre Weigerung, verbannt sie aus seinem Reich, ebenso seine Untertanin Kent (Lena Schwarz), die es wagte, Cordelia zu verteidigen.
Fingierter Brief
Parallel zu Lear entfaltet sich bei Lears Ratgeber Gloucester ein ähnliches Drama, diesmal jedoch mit umgekehrten Vorzeichen. In Lenks Inszenierung wird Gloucester von einer Frau (Karin Pfammatter) gespielt. Gräfin Gloucester hat zwei Söhne: Edgar (Johann Jürgens) und den unehelichen Edmund (Steven Sowah). Da Edmund laut Gesetz nichts erben soll, spinnt er eine Intrige gegen seinen Halbbruder. In einem fingierten Brief, den er angeblich von Edgar erhalten hat, klagt er über die Tyrannei der Mutter, die nur auf ihrem Erbe sitzt. Wie Cordelia wird so auch der rechtschaffene Edgar verstoßen, während Goneril, Regan und Edmund eine unheilvolle Allianz bilden. Mit dem Generationenwechsel wechseln nun auch die Bühne (Judith Oswald) und die Kostüme (Sibylle Wallum). War alles zuvor in dunklen Grautönen gehalten, dominiert jetzt ein leuchtendes Rot und Rosa. Nun zeigen die Töchter ihr wahres Gesicht und verweisen die alte Generation in ihre Schranken.
Dppelte Perlenreihen erinnern an Vagina
In einer riesigen, aufgerissenen Mundhöhle mit verführerischen Lippen haben sich die beiden Töchter Goneril und Regan eingerichtet. Ihre Kleidung ist jetzt ganz die zweier Rache-Königinnen: Seidene Hosen und rosarote Bustiers, von denen schreiende Frauenköpfe medusenartig aufs Publikum herabblicken, Zierbänder, auf denen die Namen einflussreicher Technologie- und Computerpionierinnen wie Ada Lovelace, Grace Hopper und Shirley Ann Jackson eingraviert sind und aufgeplusterte Ärmel, die mit den Schlitzen und doppelten Perlenreihen an Vagina dentatas denken lassen. Das also ist die verführerisch-tödliche Höhle des Bösen, wo King Lear und seine Armee alter Männer entmannt, excusé: entmachtet werden sollen. Im 21. Jahrhundert bedeutet das: Im Netz werden sie öffentlich an den Pranger gestellt, ihre Meinungen gecancelt.
In einer großartigen Szene schwebt Edgar, der bei Shakespeare als „Tom der Bettler“ durch die Wälder irrt, als verloren gegangener Astronaut „Major Tom“ durch den Raum. (Schon zuvor war im Stück das Echo der neuen deutschen Fussballhymne in der Version von Peter Schilling zu hören gewesen, wenn Lears Gefolgsleute als Bierflaschen verkleidet über die Bühne torkelten.) Lear, seine als Närrin verkleidete Gefährtin Kent und Gloucester beobachten ihn am Himmel, wie er E.T.-artig auf einem fliegenden Fahrrad dem irdischen Leben davonsegelt. Die Schauspielkunst von Jochen Jürgens, der Edgar spielt, zeigt sich in seinen unterschiedlichen Verwandlungen: Mal wird er zum holländischen Piloten, mal zum österreichischen Einsiedler, was für herzhafte Lacher sorgt.
Zu Unrecht verstoßen
In der Mund-Höhle entspinnt sich derweil eine Rivalität zwischen Goneril und Regan, die beide um Edmunds Liebe kämpfen. Soll nun ausgerechnet ein Mann die Macht der Schwestern gefährden? Um Edmund ihre Zuneigung zu beweisen, locken sie seine Mutter in eine Falle und rauben ihr in einer brutalen Szene das Augenlicht. Die Blendung führt (ganz in der Tradition der griechischen Tragödie) zu einer Einsicht: Gloucester erkennt, dass sie Edmund vertraut und Edgar zu Unrecht verstoßen hat. Wie Gloucester, die mit ihrem goldenen Nimbus als heilige Maria, als Mutter aller, geblendet wurde, versteht nun auch Lear, dass er nicht nur biologischer Vater ist, sondern auch ein Symbol für den alten weißen Mann, der als Sündenbock für alles herhalten muss. Lear trifft damit einen neuralgischen Punkt in der derzeitigen Gender-Debatte: „Wie viele Menschen gibt es denn noch, die die Fehler bei sich suchen und nicht immer bei anderen?“, fragt Lear im Stück unfreiwillig rhetorisch, da seine Töchter für eine solche Einsicht taub sind. „Ihr habt mich zum Symbol gemacht, doch je mehr ihr mich cancelt, desto größer macht ihr mich!“
Am Schluss kommt es so, wie es kommen muss – und doch ganz anders. Alle drei Töchter sterben, getrieben von Neid und Eifersucht und gegenseitiger Intrige, während Lear um Cordelia trauert. Bei Shakespeare endet das Stück hier. Doch in Lenks Inszenierung kommt es zu einem unheimlichen Finale: Goneril und Regan erheben sich, als wären sie unsterblich. Im Chor singen sie: „Auch wir finden’s traurig, auch wir weinen mit, doch kein Paradies ohne Höllenritt“ – das ist das Mantra der Schwestern, die ihr blutiges Handwerk von den Vätern gelernt haben. In der letzten Szene sitzt Lear erneut auf seinem Thron, schart seine Töchter wie Bedienstete um sich und stellt die gleiche Frage wie in der allerersten Szene, während die Bühne gespenstisch auf uns zurast. Die Frage, ob hinter jedem Generationswechsel nur die Wiederholung des Patriarchats steht, bleibt in dieser phänomenalen Inszenierung von Anne Lenk auf beunruhigend ambivalente Weise offen.
Source: faz.net