Gaza oder Atomkrieg? Zwei Favoriten gen den Goldenen Löwen

Die Angstfantasien sind meistens mit dem Danach beschäftigt. Wie wird die Welt um uns herum nach einem Atomangriff wohl aussehen? Kathryn Bigelow aber bannt in ihrem neuen Film A House of Dynamite das Publikum allein mit der Schilderung dessen, was in der letzten Viertelstunde vor dem Einschlag passiert. Die Wirkung, die ihr Thriller dabei entwickelt, ist von überraschender Stärke und schafft Unruhe in einer Zeit, in der man sich an Atomwaffen rundherum geradezu gewöhnt hat.

Wenn man in den ersten Szenen Olivia Walker (Rebecca Ferguson), leitende Offizierin im „White House Situation Room“, zur Arbeit gehen sieht, pflichtbewusst trotz einer durchwachten Nacht mit einem kranken Kleinkind, fühlt man sich zuerst auf wohlige Weise heimgeholt von Bigelows Film: Man ist zurück in einer Welt, in der an den Schlüsselstellen der Regierung Menschen arbeiten, die ihren Job gut machen! Ferguson strahlt jene Kompetenz aus, jenen hohen Grad an Professionalität, Ausbildung und Training, der in der realen Welt der US-amerikanischen Politik der letzten Jahre verloren gegangen scheint und deshalb auch im Kino der Darstellung von Inkompetenz und Politclownerie gewichen ist.

In der Welt von A House of Dynamite aber sind die zeitgenössischen Zuschreibungen von Republikaner und Demokraten, „MAGA“ und „Lib“ zugunsten eines vagen Patriotismus ausgesetzt, der mit Fachwissen und Informiertheit einhergeht.

Eine Welt ohne MAGA, dafür mit Kompetenz

Selbst der jugendliche Vertreter aus dem nationalen Sicherheitsrat (Gabriel Basso aus Netflix‘ Night Agent), den der Notfallanruf unvorbereitet noch vor der Arbeit erwischt, weiß über Wesentliches Bescheid. Was er da von unterwegs in verstolperten Zoom-Aufnahmen zur Krisenkonferenz beisteuert, verblüfft sogar den von Jared Harris gespielten Verteidigungsminister.

Anders als allgemein angenommen, ist das Abschießen von eintreffenden Langstreckenraketen nämlich nicht so einfach. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein „GBI“, ein „Ground-Based Interceptor“ sein Ziel trifft, beträgt leider nur 61 Prozent. „Also, als ob wir eine Münze werfen? Und dafür haben vier 50 Milliarden ausgegeben?“, flucht der Minister. Aber mit der Vergangenheit zu hadern, dazu bleibt in A House of Dynamite keine Zeit, denn die Atomrakete, die eine nicht identifizierte gegnerische Partei im Pazifik losgeschossen hat, bewegt sich auf Chicago zu und wird, nachdem das „GBI“ versagt hat, in neun Minuten einschlagen.

Bigelows Thriller hält so einige Schläge in die Magengrube bereit. Die Tatsache, dass von Entdeckung eines abgefeuerten nuklearen Sprengstoffs auf der einen Seite der Erdkugel bis zu dessen Einschlag auf der anderen nur etwa zwanzig Minuten vergehen, in denen über die richtige Art der „Antwort“ nachgedacht werden kann, ist einer davon. Wie schnell in den ablaufenden Minuten eine Stadt mit über zehn Millionen Einwohnern als verloren „abgeschrieben“ wird, ein anderer.

Ein bisschen erinnert A House of Dynamite an den Klassiker Fail Safe – Angriffsziel Moskau aus dem Jahr 1964, wo ein weltzerstörender Atomkrieg am Ende nur dadurch verhindert werden kann, dass die US-Amerikaner, nachdem eine ihrer Bomben Moskau quasi versehentlich zerstört hat, New York opfern. Die Ausgangslage in Bigelows Film ist ähnlich, unterscheidet sich aber in der Analyse ganz wesentlich: Sie führt mit tickender Logik vor Augen, dass jede Art von Kontrolle oder sinnvollen Steuerung der Folgeereignisse zur bloßen Illusion wird, wenn die Sprengköpfe einmal in der Luft sind.

Kann man den Ernstfall überhaupt üben?

Wie in ihren Militär-Thrillern The Hurt Locker und Zero Dark Thirty gelingt es Bigelow, das Publikum ganz in die Welt ihrer Schauplätze und die Perspektiven ihrer Helden eintauchen zu lassen. Hier sind es die Leitzentralen und Stützpunkte der amerikanischen Raketenabwehr und des Verteidigungsapparats.

Die Meldung einer sich dem Luftraum von Alaska nähernden Missile lässt nach wenigen Minuten die Defcon-Tafel von der grünen Stufe 4 auf eine gelbe Stufe 2 springen. Man sieht, wie die diversen Ablauf-Protokolle in Gang kommen. Handbücher werden aufgeschlagen, Maßnahmen eingeleitet, Männer und Frauen nach Rangordnung in Bunker eskortiert. „Wir haben das tausend Mal geübt!“, sagt jemand, der es wissen muss. „Wir haben doch alles richtig gemacht?“ fragt ein anderer, den das Gefühl beschleicht, dass all die Vorbereitung im Ernstfall doch nichts nützt.

Der Film spielt sein bedrückendes Szenario auf allen Ebenen der Hierarchie bis zum von Idris Elba verkörperten Präsidenten durch. Zwar häufen sich die Momente der Vermenschlichung, in denen man Entscheidungsträger sieht, die konfrontiert mit dem möglichen nahen Ende wehmütige Blicke auf die Bilder ihrer Liebsten werfen. Aber was Bigelow herausstellt, ist die Ohnmacht des Apparates in diesem ernstesten aller Ernstfälle: In dem Moment, in dem der Einschlag auf Chicago unausweichlich schient, gibt es keine „guten“ Optionen mehr.

Der Gegenschlag, den der General (Tracy Letts) in guter alter amerikanischer Falken-Tradition empfiehlt, tritt die Spirale der Vernichtung los. Es nicht zu tun, hieße das ganze Land für weitere Bomben auszuliefern. Dass in den 20 Minuten noch nicht mal sicher ermittelt werden konnte, wer hinter dem Anschlag steckt – Nordkorea? Die Russen, die es so aussehen lasen wollen, als sei es Nordkorea? – macht die Entscheidungen nicht einfacher.

Meisterhaft inszeniert, bis in kleinste Auftritte großartig besetzt und in seinen vielen Details reich an unterschiedlichen Reflexionen zum Thema Atomwaffen und Frieden durch „gegenseitig zugesicherte Zerstörung“, zeigt sich Kathryn Bigelow mit A House of Dynamite in Höchstform. Obwohl durch das Auslassen jeglicher MAGA- oder Trump-Aspekte scheinbar unpolitisch, fühlt sich der Film mit seiner Kritik an der Eigendynamik des Systems hochpolitisch, dringlich und absolut aktuell an.

Dringlich: Die Stimme von Hind Rajab

Dringlich und aktuell, diese Beschreibung nimmt auch der französisch-tunesische Wettbewerbsbeitrag The Voice of Hind Rajab für sich in Anspruch, mit dem das Thema Gaza-Krieg in den letzten Tagen doch noch mitten im Festival von Venedig angekommen ist. Auf den ersten Blick ähneln sich der Film von Kathryn Bigelow und der von Regisseurin Kaouther Ben Hania sogar. Auch Hania siedelt ihre Handlung in einer Leitzentrale an. Hier ist es die des Roten Halbmonds in Ramallah in der Westbank, in der am 29. Januar 2024 ein Notruf aus einem von der israelischen Armee beschossenen Auto in Nordgaza einging. Hania rekonstruiert die tragischen Stunden, die dem Tod des 6-jährigen palästinensischen Mädchens Hind Rajab Hamada vorausgingen.

Eben noch sieht man die Notruf-Mitarbeiter zusammen bei einer Rauchpause scherzen, Rana (Saja Kilani) will gerade nach Hause gehen, als Omar (Motaz Malhees) den Anruf einer aufgeregten Mädchenstimme annimmt, die aus Nordgaza um Hilfe ruft. Dann hört Omar Schüsse und danach nur noch Stille. Bereits in Schock ruft er die Nummer noch einmal an und bekommt nun die sechsjährige Hind an die Leitung. Dann stellt sich heraus, dass Hind die einzige Überlebende in einem Auto ist, in dem die Leichen ihrer Tante, ihres Onkel und vier Cousins und Cousinen liegen.

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Es ist eine Situation, die an Dringlichkeit und tragischen Implikationen bereits da nicht zu überbieten ist. Hania verengt den Blick absichtsvoll auf die Lage in der Telefonzentrale und macht die Mitarbeiter zu Figuren eines „Tableau vivant“ der emotionalen Betroffenheit. Die verschiedensten Temperamente sind vertreten: Omar ist der Aufbrausende, der unbedingt schnell eine Ambulanz losschicken möchte.

Doch das ist im Kriegsgebiet leichter gesagt als getan: Omars Kollege Mahdi (Amer Hlehel) trägt schwer an der Verantwortung, das Leben der Rettungsfahrer zu riskieren. Deshalb muss „koordiniert“ werden; das bedeutet, die Route der Rettung über mehrere Stellen mit der israelischen Armee abzusprechen und genehmigt zu bekommen. Ein Rettungswagen steht acht Minuten entfernt, aber der Prozess der „Koordination“ dauert Stunden.

So geraten Omar und Mahdi immer wieder aneinander. Rana macht sich unterdessen zur mütterlichen Vertrauten des kleinen Mädchens, kann ob der Aussichtslosigkeit der Situation aber bald nur noch weinen. Als Vierte kommt Supervisorin Nisreen (Clara Khoury) hinzu, die selbst dann noch Ruhe bewahrt und Trost spenden kann, als bereits alles verloren scheint.

Alle Zeichen stehen auf Emotionalisierung

Regisseurin Hania benutzt die Originalaufnahmen von Hinds Stimme. Ihr gelingt es durch die Engführung auf die Situation am anderen Ende der Leitung für die Dauer des Films einen vermeintlich entpolitisierten Raum zu schaffen, in dem dann einzig das Mitgefühl für das kleine Mädchen regiert. Politische Widersprüchlichkeiten sind so recht wirkungsvoll ausgeschlossen.

Die Mitarbeiter selbst sprechen untereinander kaum ein Wort über den Krieg oder Israel, an einer Stelle weist Omar darauf hin, dass die israelische Armee mit ihren Wärmekameras das Mädchen doch wohl sehen kann, an einer anderen sieht man, wie eine Mitarbeiterin schnell die Mitschnitte der Anrufe kopiert, um sie für Social Media aufzubereiten. Andere Notfälle gibt es im Alltag der Zentrale keine mehr – sämtliche Kräfte der Zentrale und des Films sind ganz auf die höchstmögliche Emotionalisierung angelegt, denn schließlich geht es um den Tod eines Kindes. Jeder Hintergrund oder weitere Kontext wird angesichts der Tragödie verdrängt.

Dem Publikum im Kino wird auf diese Weise kaum eine andere Reaktion als die der Trauer und Empörung ermöglicht. Bei seiner Premiere auf dem Filmfestival von Venedig erhielt The Voice of Hind Rajab dementsprechend eine rekordbrechende 23-minütige Standing Ovation, unter „Free Palestine“-Sprechchören entfaltete das Filmteam auf der Bühne die palästinensische Flagge. Dass Hanias Film am Samstag bei der Löwenvergabe berücksichtigt wird, scheint fast sicher.