Gaza: Kann unser kollektives Gedächtnis verschwinden wie die Mauern unserer Häuser?
Noch immer ist internationale Presse im Kriegsgebiet nicht erlaubt. Deshalb kommen an dieser Stelle Zivilisten zu Wort, deren Erlebnisse nicht nur von Politik und Krieg handeln, sondern davon, wie sich diese niederschlagen in ihrem Alltag
Alles zerstört: Trümmerberge im nördlichen Gazastreifen (22.08.2025)
Foto: Bashar Taleb/AFP/Getty Images
Gaza, im August 2025.Heute Morgen traf ich einen Freund aus meinem Heimatdorf Khozza’a auf dem „Markt“, und wir sprachen davon, was passiert ist, uns und unserem zerstörten Dorf. Als ich zurückkam in mein Zelt, schrieb ich diesen Text:
Wir kommen in Zelten zusammen, die keine Nostalgie zulassen
Ist es möglich, dass wir nicht zurückkehren? Ist unser Zuhause wirklich „Geschichte“? Alle Häuser sind zerstört, alle Straßen ausgelöscht, da sind keine Gassen mehr, keine Plätze, an denen wir uns treffen könnten, und kein Café, um „abzuhängen“, wie wir es nach Feierabend taten. Alle Bewohner zerstreuten sich, der Ort, der uns hervorgebracht hatte, ist verschwunden, dem Erdboden gleichgemacht und zu einer stöhnenden Erinnerung tief im Herzen geworden.
Wir trafen uns heute „in displacement“, aber nur durch Zufall, und nur zu zweit. Früher lachten wir von Herzen, heute treffen wir belastet, besorgt und mit Stirnrunzeln aufeinander. Wir kommen in Zelten zusammen, die keine Nostalgie zulassen und nicht von „Zuhause“ singen. Früher brachten uns die „Lamma“ – die Zusammenkünfte – jeden Abend oder jeden Donnerstag zusammen. Jetzt beschränken sie sich auf Facebook und WhatsApp-Gruppen. Und die wirkliche Wärme verlor sich in Benachrichtigungen auf blaukalten Displays.
Wir werden uns auch verlieren. Unsere Präsenz in dieser riesigen Welt wird wie Herbstlaub verstreut sein, ohne Wurzeln, ohne einen Ort, an den wir zurückkehren und eine neue Diaspora gründen können. Ist dann der Teil der Seele, der diesen Ort bewohnte, auch ausgelöscht? Kann unser kollektives Gedächtnis verschwinden, wie die Mauern unserer Häuser verschwunden sind? Oder bergen die Details in unseren nostalgischen Gedanken doch die aufrichtige Einladung und das Versprechen zwischen Freunden: Wir werden zurückkehren … eines Tages?“ Ich las den Text nochmals, bevor ich ihn der Redaktion schicken wollte, und merke, wie aussichtslos die Situation inzwischen geworden ist.
Wie sollen die Menschen aus Gaza-Stadt hier unterkommen?
Der Gedanke an die Rückkehr in ein zerstörtes Dorf scheint sich zu erübrigen. Uns beschäftigt viel mehr: ‚Wohin‘? Die Suche nach einem Ausweg: Exil im Ausland?! Das ist keine freie Wahl, wer kann Entscheidungen treffen, wenn er keine Kraft mehr hat? Denn natürlich ist er eigentlich immer da, der Traum der Rückkehr.
Noch kam kein neuer Evakuierungsbefehl. Aber nach den Wellen der Zwangsevakuierungen, die wir erlebt haben, leben wir seit einem Jahr in einer Zeltstadt in al-Mawasi, so überfüllt … – es ist erdrückend. Wie sollen die Menschen aus Gaza-Stadt, denen die Vertreibung droht, hier unterkommen? Nur 400 Meter von unserem Zelt entfernt liegt das sogenannte „japanische Viertel“, das so genannt wird, weil es Japan finanziert. Kürzlich wurde es zur Evakuierung aufgefordert. Bisher kamen noch keine Panzer, Gottlob! Nur Bomben und Granaten, und die Quadcopter – Drohnen, die tief fliegen und feuern. Die Querschläger, Granatsplitter, die „stray bullets“, die ebenso tödlich sein können, landen auch bei uns. Und vor wenigen Tagen starb eine Frau, als ein Schrapnell ihren Kopf durchbohrte.
Nimmt dich die Besatzungsmacht ins Visier – „aus Versehen“?
Wenn du nah an einem Evakuierungsgebiet haust, stehst du ununterbrochen unter Spannung, lebst in der dauernden Angst: Macht die Armee einen Fehler? Nimmt sie dich ins Visier „aus Versehen“? Wir können nicht darauf vertrauen, alles richtig gemacht zu haben, die Sorge hört nicht auf. Wie kann ich ans Zurückkehren denken, wenn neue Vertreibung droht? Kein Ausweg. No „exit Gaza“.
Und der Gedanke an Rückkehr bleibt ebenfalls ein Traum. Ein Nagel im Kopf. Er ist nicht neu, es ist ein Verlangen, das unsere Leute haben seit 1948 – die Rückkehr fand nie statt. Wieder leben wir, immer noch leben wir. Generation für Generation, in Lagern in der Heimat und in der Diaspora.