Gaza: Das gezielte Töten von Yahya Sinwar eröffnet keine Friedensperspektive
Die Hamas wird auf den Tod ihres Anführers vorbereitet gewesen sein und sich schnell neu organisieren können. Yahya Sinwars Charisma wird von der israelischen Führung und westlichen Beobachtern überschätzt
„Dem Bösen ist ein Schlag versetzt worden“, verkündete Benjamin Netanjahu, nachdem es seiner Armee am 16. Oktober „zufällig“ gelang, den Chef der Hamas, Yahya Sinwar, zu töten. Warum hielt der sich nicht im Tunnelsystem auf, in seinem zweifellos alles andere als perfekt ausgerüsteten Kommunikationszentrum? Weshalb war er in Rafah unterwegs, der Gefahr einer Liquidation ausgesetzt? Zwei Gründe sind denkbar. Sinwar musste infolge eines Machtkampfs die Kommandozentrale verlassen oder er unterwarf sich der vorhersehbaren Tötung aus politischem Kalkül.
Dass seine Person immer wieder zum Haupthindernis für die Befreiung der Geiseln und eine Waffenruhe aufgebläht wurde, entsprach nicht der Wahrheit. Die nach der Ermordung Ismail Haniyyas von Sinwar geführte Hamas hatte den von den USA vorgeschlagenen Perspektivplan für eine Feuerpause, einen Gefangenenaustausch und Frieden akzeptiert. Wer die Nachrichten aufmerksam verfolgt, kann zu dem Schluss gelangen, dass Sinwars Tod Netanjahu zumindest den propagandistischen Vorwand nimmt, mit dem er bisher Verhandlungen ausgewichen ist. Im Übrigen zeigt sich wieder einmal, dass die gezielte Tötung von palästinensischen Führungsfiguren keinen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf des Konflikts mit dem israelischen Staat hat. Dessen Macht wird – unabhängig davon, was Europäer denken – als kolonial und brutal wahrgenommen. Unter diesen Umständen sind Milizen auf den Verlust ihrer Führer vorbereitet. Gerade dort bestehen flache Hierarchien. Das lässt sich ebenso im Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah beobachten, die sich – daran sei ausdrücklich erinnert – ebenfalls zu Sondierungen über eine Waffenruhe bereit erklärt hat.
Zugleich bleibt sie fähig, den Krieg fortzusetzen. Den jedoch mit aller Härte weiterzuführen, daran ist allein Israel interessiert, im Besonderen der Regierungschef. Netanjahu muss damit rechnen, ohne Immunität einem Verfahren ausgesetzt zu sein, das seine Verantwortung für das Staatsversagen während des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 klärt. Zudem dürfte sich kaum eine Untersuchung vermeiden lassen, die der Frage nachgeht, weshalb Netanjahus Regierung nicht alles getan hat, um die Geiseln zu retten.
Nach allem, was kolportiert wird, ist eine Mehrheit der Israelis nach wie vor bereit, den Krieg mit aller Härte fortzusetzen. Keine große Überraschung, wenn es jahrelang gelungen ist, jede Information darüber zu diskreditieren, dass sowohl die arabischen Länder als auch die Palästinenser, einschließlich der Hamas, immer wieder Angebote zur Koexistenz gemacht haben.
Israels Führung und die politische Klasse des Westens überschätzen die Bedeutung von Charisma in der nichtwestlichen Welt, was auch für die Rolle Wladimir Putins im Ukraine-Krieg zutrifft. Und sie unterschätzen sowohl die technologischen Fähigkeiten ihrer Gegner als auch deren militärpolitische Grundsätze. Wenn weder die Angriffe Irans noch der Hisbollah bis jetzt ähnliche Verwüstungen bewirkten wie die israelischen, haben sie doch bewiesen, dass Iraner und Libanesen genau zielen können. Das zeigt der Drohnenangriff auf das beschädigte Haus Netanjahus in Caesarea. Internationale Militärexperten haben registriert, dass sich sowohl die Angriffe Irans als auch der Hisbollah bislang auf militärische – nicht zivile Ziele – gerichtet haben, was der angeblich moralischsten Armee der Welt absolut nicht gelingen will.