Ganz Europa lechzt nachdem deutscher Spitze: Auf Merz’ Heuchelei wäre Bismarck neidisch

So kaschiert man Machtansprüche: Angeblich rufen vor allem Balten und Osteuropäer danach, dass Deutschland die Führungsrolle übernehme. Doch unser Autor weiß, was sich hinter der Linie von Friedrich Merz verbirgt


Europäische Staatschefs in Berlin. Von vorn links: Der finnische Präsident Alexander Stubb, der polnische Ministerpräsident Donald Tusk, der französische Präsident Emmanuel Macron, der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der US-Sonderbeauftragte Steve Witkoff, der Schwiegersohn des US-Präsidenten Jared Kushner und die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Hintere Reihe von links: Der norwegische Ministerpräsident Jonas Gahr Store, NATO-Generalsekretär Mark Rutte, die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, der niederländische Ministerpräsident Dick Schoof und der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristersson

Foto: Kay Nietfeld/AFP/Getty Images


Im Juni 1878 trafen sich die Vertreter der europäischen Großmächte in Berlin, um den Dauerstreit zwischen Russland und dem Osmanischen Reich beizulegen. Die Russen forderten einen Zugang zum Mittelmeer, die Türken weigerten sich, ihre europäischen Kolonien aufzugeben. Großbritannien wollte ohne die störende russische Konkurrenz weiter seinen Geschäften in Asien nachgehen, Frankreich und Österreich-Ungarn sorgten sich um ihren Einfluss auf dem Balkan. Nur Deutschland gab vor, keinerlei Interessen zu verfolgen, sondern allein der Hebung der Moral zu dienen.

Der Gastgeber des Berliner Kongresses, Otto von Bismarck, inszenierte sich dabei als „ehrlicher Makler“ zwischen den imperialen Interessen. Das erst wenige Jahre zuvor gegründete Deutsche Reich wollte kein Misstrauen der Nachbarn vor dem neuen Schwergewicht in der Mitte Europas wecken.

„Außenkanzler“ Bismarck machte in Berlin einen hervorragenden Job – jedenfalls glauben das viele bis heute. Denn im Windschatten des russisch-türkischen Konflikts konnte sich Deutschland stillschweigend als Großmacht etablieren. Alle waren zufrieden, nur die Russen waren sauer. So sehr, dass Zar Alexander II. seinen berühmten „Ohrfeigenbrief“ an Kaiser Wilhelm I. schrieb. Das bislang gute deutsch-russische Verhältnis war zerstört, die prestigebewussten Russen fühlten sich von Deutschland gedemütigt. Bismarck hatte den Grundstein für den Ersten Weltkrieg gelegt.

Merz als Möchtegern-Bismarck

Anfang dieser Woche tagten die Großmächte wieder in Berlin, doch das Verhältnis zu Russland muss gar nicht mehr zerstört werden, es ist längst zerrüttet. Wie damals nutzt Bundeskanzler und Möchtegern-Bismarck Friedrich Merz den russischen Krieg, um in dessen Windschatten Deutschland als neue Großmacht zu etablieren. Die Gelegenheit dafür ist günstig. Denn anders als nach der Wiedervereinigung, als Frankreich und Großbritannien heftigen Widerstand gegen ein „deutsches Europa“ leisteten und vor einem „Vierten Reich“ warnten, blicken jetzt alle ehrfürchtig zum Berliner Kanzleramt, das sich als Bollwerk gegen ein aggressives Russland feiert.

Die Begleit-Propaganda wird jedenfalls nicht müde, zu behaupten, dass die Europäer eine deutsche Führungsrolle geradezu herbeisehnen. Vor allem die Balten und die Osteuropäer wünschten sich eine deutsche Schutzmacht, also müssten die friedliebenden Deutschen endlich über ihren pazifistischen Schatten springen und als „Großmacht wider Willen“ fungieren. Ein deutscher Opfergang also!

So kaschiert man eigene Machtansprüche. Deutschland will ja nicht nur „die größte konventionelle Streitmacht Europas“ aus dem Boden stampfen, Vordenker wie der Unions-Fraktionsvorsitzende Jens Spahn plädieren auch schon für eine „deutsche Atombombe“. Denn ohne Nuklearschild sei man Russland ausgeliefert. Aber wie sollen die Deutschen an diese Wunderwaffen gelangen?

Ohne Rückhalt der USA wird nicht viel aus Merz’ Träumen

Das geht nur, wenn man die akute Bedrohung durch Russland mit allen zur Verfügung stehenden Medienmitteln unablässig ins Bewusstsein der Europäer hämmert – und zugleich die entscheidenden politischen Institutionen besetzt. Die EU-Kommission ist bereits fest in deutscher Hand, den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat fordert man unbeirrt seit vielen Jahren, den europäischen Teil der NATO könnte nach dem Rückzug der US-Amerikaner bald ein Deutscher leiten. Ursula von der Leyen war 2024 als NATO-Generalsekretärin gesetzt, doch ihr Anti-Russlandeinsatz als EU-Kommissionspräsidentin ist offenbar dringlicher.

Ohne den Rückhalt der USA kann aus den deutschen Großmachtträumen freilich (vorerst) nichts werden. Das weiß Friedrich Merz sehr genau. Und da seine Zunge oft schneller als seine Vorsicht ist, entfleucht dem „ehrlichen Makler“ bisweilen die ungeschminkte Wahrheit. Mit Blick auf die neue nationale Sicherheitsstrategie der USA appellierte Merz an die US-Regierung, doch künftig ganz auf Deutschland zu setzen. Wörtlich sagte er: „Ihr braucht auf der Welt auch Partner, und einer der Partner kann Europa sein, und wenn ihr mit Europa nix anfangen könnt, dann macht wenigstens Deutschland zu eurem Partner.“ Die deutschen Militärs bieten ihr Land längst bereitwillig als logistische Drehscheibe und Abschussrampe für künftige Russland-Feldzüge an. Dafür werden Straßen, Schienen, Häfen und Flugplätze modernisiert.

Deutschland müht sich auch, die EU, wenn einzelne Mitglieder nicht spuren, durch „Koalitionen der Willigen“ zu umgehen und damit das lästige Einstimmigkeitsprinzip der EU auszuhebeln, etwa durch E3 (Deutschland, Frankreich, Großbritannien), Weimarer Dreieck (Deutschland, Frankreich, Polen), Weimar+ (D., Fr., P., GB, Spanien, Italien, EU-Kommission), Washington- (D., Fr., GB, Norwegen, Finnland, P., It.) oder Ramstein-Format (45 Ukraine-Unterstützerstaaten).

Die Unterstützung der Ukraine ist ja nicht deshalb Deutschlands oberste Priorität, weil der schwarz-roten Regierung das Wohlergehen der Ukrainer so am Herzen liegt. Der Krieg in der Ukraine ist einfach die ideale Gelegenheit, um ohne größere Widerstände ein deutsches Europa aufzubauen.