„Für jedes keine dieser Maßnahmen treulich sich belastbare Effekte“

Die Pandemie-Maßnahmen hätten vielen Menschen das Leben gerettet, beteuert der Gesundheitsminister und bezieht sich dabei auf ein Gutachten des RKI. Unabhängige Wissenschaftler haben es überprüft – und fanden erhebliche Mängel
Endlich ist es da. Epidemiologen, Virologen und Statistikexperten liegt ein brisantes Papier zur Corona-Pandemie vor, das monatelang erwartet worden war. Die 27-seitige Analyse dürfte auch in der Öffentlichkeit für Furore sorgen, trotz ihres sperrigen Titels: „Unsicherheit und Inkonsistenz der nicht-pharmazeutischen Covid-19-Interventionseffekte mit mehreren konkurrierenden statistischen Modellen“. Eine etwas schlichtere Formulierung könnte so lauten: Was vom wichtigsten Corona-Gutachten der Bundesregierung übrig bleibt, wenn unabhängige Wissenschaftler es sich vornehmen.
Ein achtköpfiges Forscherteam, darunter der Stanford-Datenwissenschaftler John Ioannidis und der australische Physiker Bernhard Müller, hatte sich zusammengefunden und das „StopptCovid“-Gutachten aus dem Haus von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) überprüft, vor allem in Hinblick auf behauptete Wirkungen von Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen und sonstigen politischen Maßnahmen. Sie stellen nun klar: Das Resümee „Wir sind gut durch die Pandemie gekommen“ entbehre der sachlichen Grundlage.
Im Juli 2023 war Lauterbach vor die Presse und getreten und hatte das Papier in die Höhe gehalten, das einen Schlussstrich unter die Pandemiepolitik setzen sollte. Die Verfasser von „StopptCovid“ waren zu einem überaus schmeichelhaften Ergebnis für den Minister gekommen. Die deutsche Corona-Politik sei erfolgreich gewesen, Lockdowns, Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen seien wirksam, die Maßnahmen hätten „vielen Menschen das Leben gerettet“.
Hygienekonzepte und Kontaktbeschränkungen hätten „eine deutliche Wirkung“ gezeigt. „Verschärfungen führten jeweils zu einer stärkeren Reduktion der Virus-Ausbreitung“, hieß es. Lauterbach bedankte sich seiner Zeit bei den Mitarbeitern und erklärte: Den Maßnahmen und den Menschen, die sie befolgten, hätten viele ihr Leben zu verdanken.
„Selbst in den einfachsten Grundlagen funktionieren Berechnungen nicht“
Unwidersprochen blieb das Gutachten nur wenige Minuten. Politiker und Wissenschaftler monierten als Kardinalfehler: Die Studie über die Strategie des Gesundheitsministeriums (BMG) sei nicht nur von ihm in Auftrag gegeben worden, sondern dieses habe die Untersuchung auch quasi selbst verfasst. Tatsächlich war dafür das Robert-Koch-Institut (RKI) verantwortlich, eine dem Ministerium untergeordnete Behörde, also keine unabhängige Instanz.
Skepsis machte sich auch breit, weil das BMG keine Anstalten machte, die Originaldaten der Studie freizugeben. Über Monate blieben diese unter Verschluss. Erst als FDP-Vize Wolfgang Kubicki das Kanzleramt einschaltete, kam Bewegung in die Sache: Ende März 2024 legte das RKI die Quellcodes seiner Modellrechnungen offen; die internationale Forschergruppe begann sehr bald mit der fachlichen Überprüfung der Behauptungen. Ihre Erkenntnisse liegen nun in einer ersten Fassung als Preprint vor. Vor der Veröffentlichung in einem Fachmagazin folgt wie üblich eine unabhängige Begutachtung.
Fest steht jedoch jetzt schon ein Hauptmakel der „StopptCovid“-Studie, die das Ministerium im Übrigen ohne Ausschreibung vergeben hatte: Es wurde nur ein einziges und obendrein unbrauchbares Berechnungsmodell angewendet. „Selbst in den einfachsten Grundlagen funktioniert es nicht“, rügt der US-Statistikprofessor John Ioannidis, einer der weltweit meistzitierten Wissenschaftler, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG. „Zieht man bessere Modelle heran, ergeben sich für keine der Maßnahmen belastbare Effekte auf die Ausbreitung der Pandemiewellen“, sagte der Experte für Biomathematik. Was nicht bedeuten müsse, dass sämtliche Maßnahmen unwirksam gewesen seien. „Einschränkungen im öffentlichen Raum könnten einen gewissen Effekt gehabt haben“, sagt Ioannidis. „Aber selbst dann sind wir nicht sicher, ob der Einfluss erheblich war.“
Verheerende Kritik an Folgerungen
Für das „StopptCovid“-Gutachten hatte das RKI Corona-Regeln und Effekte in den einzelnen Landkreisen von 2020 bis 2021 ausgewertet. Ein enormes Datenkonvolut, das die unabhängigen Forscher mit sieben statistischen Modellen durchdrangen. Das RKI hatte es mit einem Modell gut sein lassen. Verheerend fällt die Kritik der Forscher vor allem an den Folgerungen von RKI und Bundesregierung aus. Sie schreiben: „Wir kommen zu dem Schluss, dass der Ansatz des deutschen Gesundheitsministeriums angesichts der offenkundigen statistischen Einschränkungen nicht ausreicht, um die Auswirkungen der Maßnahmen auf die öffentliche Gesundheit zu ermitteln.“ Mit anderen Worten: Dass Lockdowns und Schulschließungen wirksam gewesen seien, lässt sich auf Basis von „StopptCovid“ nicht behaupten. „Nach unserer Analyse hat das RKI die Unsicherheiten seiner Berechnungen massiv unterschätzt“, sagt Astrophysiker Bernhard Müller im Gespräch mit dieser Zeitung. So vermutet er, dass schon die Ankündigung einer Maßnahme Wirkung gezeigt habe und damit die Zahlen verzerrte.
„Man kann daraus nur Kaffeesatzlesen betreiben“
Insgesamt hätten nur wenige Maßnahmen einen messbaren Effekt gehabt. Einschränkungen im öffentlichen Raum zeigten demnach eine bescheidene Wirkung, noch geringer fiel diese bei den Schulschließungen aus – sie konnten die Virus-Ausbreitung kaum bremsen. Virologe Jonas Schmidt-Chanasit resümiert: „Maßnahmen wie die Maskenpflicht oder Kontaktbeschränkungen zeigten laut Studie keine Effekte.“ Beim Thema Impfung weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass eine „höhere Durchimpfungsrate unter bestimmten Bedingungen sogar zu einem Anstieg der Infektionsspitzen führen kann“.
Epidemiologe Alexander Kekulé wundert sich, dass das RKI „StopptCovid“ auch zwei Jahre nach Erscheinen noch nicht in einem Fachmagazin publiziert hat: „Die Aufarbeitung der Pandemie ist weltweit in vollem Gange und die Frage, welche Gegenmaßnahmen gewirkt und welche mehr Schaden als Nutzen gebracht haben, wird in der Fachwelt heiß diskutiert. Ohne begutachtete Veröffentlichung ist die so genannte StopptCovid-Studie wenig wert, man kann daraus nur Kaffeesatzlesen betreiben“, sagte er WELT AM SONNTAG.
Das RKI versicherte gegenüber dieser Redaktion, dass die Studie sich „im Publikationsprozess befindet“. Ein festes Datum für die Veröffentlichung könne aber noch nicht genannt werden. Die Überprüfung wollte die Behörde aber nicht bewerten, man kommentiere „generell keine Aussagen Dritter über die Presse“.
Das Fazit von FDP-Vize Kubicki, der auf eine Begutachtung der RKI-Arbeit gedrungen hatte, fällt eindeutig aus: „Kaum mehr als PR.“
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Source: welt.de