Früherer Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger gestorben

Am 5. September 1992 trafen sich im britischen Bath Finanzminister und Notenbankgouverneure aus der Europäischen Union. Im Europäischen Währungssystem, einem Wechselkurssystem für die nationalen Währungen damals noch unter Beteiligung Großbritanniens, waren schwere Spannungen aufgetreten. Die Deutsche Bundesbank bekämpfte mit hohen Leitzinsen – der wichtige Diskontsatz betrug damals 8,75 Prozent – eine durch den Boom der deutschen Wiedervereinigung geförderte Inflation. Aber die strenge Geldpolitik der Deutschen passte nicht zur Wirtschaftslage in den anderen Ländern des Währungssystems.

Folglich begannen die Finanzmärkte auf eine Abwertung anderer Währungen gegenüber der D-Mark zu spekulieren, die aber aus politischen Gründen nicht opportun waren. Wenige Monate zuvor war der Vertrag von Maastricht unterzeichnet worden, der den Weg zum Euro ebnete. Einige Partner Deutschlands vertraten die Ansicht, im gemeinsamen Interesse Europas müsse die Bundesbank ihre Geldpolitik lockern und ihre Leitzinsen senken.

In Bath eskalierten die Spannungen, als der britische Schatzkanzler Norman Lamont erheblichen Druck auf Bundesbankpräsident Helmut Schlesinger ausübte. Schließlich, so heißt es, habe Lamont mit der Faust auf den Tisch geschlagen und Schlesinger mit den Worten angefahren: „Hier sitzen zwölf Finanzminister, die von Ihnen Leitzinssenkungen erwarten. Warum tun Sie es nicht?“ Worauf Schlesinger Lamont antwortete, er werde den Raum verlassen, wenn weiter in diesem Ton gesprochen werde.

Die Situation rettete Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU), der Schlesinger zum Bleiben veranlasste und Lamont erklärte, keine Regierung könne der unabhängigen Bundesbank Weisungen erteilen. Am 16. September musste die Bank of England ihre Versuche einstellen, den Wechselkurs des nach Ansicht vieler Fachleute völlig überbewerteten Pfund Sterling gegenüber der D-Mark zu verteidigen. In der Folge wertete die britische Währung gegenüber der deutschen um rund 15 Prozent ab. Die britische Regierung war blamiert.

Wichtiger Strategiewechsel

Helmut Schlesinger hat die Deutsche Bundesbank repräsentiert wie in der D-Mark-Zeit kaum jemand sonst: unbeirrt der Stabilität des Geldwerts und der Unabhängigkeit der Notenbank verpflichtet, den Ideen der Marktwirtschaft und der Freiheit verbunden und auf Distanz zu Regierungen bedacht, die er gleichwohl zu einem sorgsamen Umgang mit dem Geld aufforderte. Herausforderungen schreckten den passionierten Bergsteiger, der unter anderem im Himalaya kletterte, nicht. Schlesingers Beharrlichkeit, seine Sachkunde und seine Präzision haben ihn, der weder vom Habitus noch von seiner Neigung ein Politiker war, mit der Präsidentschaft der Deutschen Bundesbank in ein sehr hohes politisches Amt geführt, in dem er nicht zuletzt die internationale Dimension deutscher Geldpolitik zu spüren bekam. Jeder Nostalgiker, der sich von einer Rückkehr Deutschlands zu einer nationalen Währung eine Befriedung der europäischen Währungsverhältnisse verspricht, sollte Schlesingers kurze Amtszeit als Bundesbankpräsident studieren.

Schlesinger, dessen auch körperlich stets aufrechte Haltung leicht dazu verführte, ihn für hochgewachsener zu halten, als er war, entstammte einer im oberbayerischen Penzberg ansässigen Familie. Am 4. September 1924 geboren, studierte er Volkswirtschaftslehre. Nach der Promotion trat er im Jahre 1952 in die Bank deutscher Länder, die Vorläuferin der im Jahre 1957 errichteten Deutschen Bundesbank ein. Dort arbeitete er sich stetig nach oben: 1964 wurde Schlesinger Leiter der Hauptabteilung Volkswirtschaft und Statistik, 1972 trat er in das höchste Führungsgremium der Zentralbank ein, das Direktorium. Nun wurde Schlesinger auch in der Öffentlichkeit als „Chefvolkswirt“ der Bundesbank bekannt – eine Position, die es mit diesem Titel offiziell aber nicht gab. Die Bundesbank bezeichnete ihn einmal als „Vordenker und Chefideologen“.

Mit dem Namen Schlesinger verbindet sich einer der wichtigsten Strategiewechsel in der Geschichte der Bundesbank. Er befürwortete nach dem Ende des auf festen Wechselkursen beruhenden Wechselkurssystems von Bretton Woods im Geiste des damals Popularität gewinnenden Monetarismus eine auf der Steuerung der Geldmenge beruhende Politik. Sie führte Deutschland in der Ölkrise der Siebzigerjahre in eine Rezession; auf längere Sicht aber kam Deutschland besser durch die damalige Inflationsära als viele andere Länder.

Er wandte sich wegen der Target-Salden an Sinn

Im Jahre 1980 wurde Karl Otto Pöhl Präsident der Bundesbank. Schlesinger übernahm die Vizepräsidentschaft, behielt aber die Zuständigkeit für Volkswirtschaft und Statistik. Pöhl und Schlesinger waren sehr unterschiedliche Charaktere. Während Medien gerne über geldpolitische Meinungsverschiedenheiten der beiden Spitzenmänner spekulierten, ergänzten sie sich in Wahrheit sehr gut. Pöhl war ein politischer, im lockeren Umgang mit Medien geübter Kopf, der gut mit Regierungen umgehen und sich auf dem Parkett der internationalen Finanzdiplomatie ungezwungen bewegen konnte, ohne darüber die Unabhängigkeit der Bundesbank aus dem Auge zu verlieren. Schlesinger sorgte derweil dafür, dass die Bundesbank ihren geldpolitischen Kurs hielt.

Im Jahre 1990 gelang es dem damals 66 Jahre alten Schlesinger, die Nachfolge des „Chefvolkswirts“ der Bundesbank mit dem angesehenen Würzburger Professor Otmar Issing in seinem Sinne zu lösen. (Pöhl hatte ursprünglich einen damals in einer Frankfurter Großbank tätigen Volkswirt im Auge gehabt.) Schlesinger überließ dem Neuankömmling die Verantwortung für die Hauptabteilung Volkswirtschaft und Statistik und übernahm die Leitung der Hauptabteilung Kapitalmärkte.

Damit hätte eine ruhmreiche Karriere in der Bundesbank sich ihrem Ende zuneigen können. Doch der überraschende Rücktritt Pöhls von der Präsidentschaft im Jahre 1991 eröffnete Schlesinger die Möglichkeit, bis zur Altersgrenze von 68 Jahren, also bis zum Herbst 1993, die Bundesbank zu leiten. Die Vizepräsidentschaft übernahm der mit der Bonner Politik bestens vernetzte Hans Tietmeyer. Schlesingers kurze Präsidentschaft war gekennzeichnet durch die Debatten um den im Frühjahr 1992 vereinbarten Vertrag von Maastricht und erhebliche Spannungen im Europäischen Währungssystem, die im Herbst 1992 begannen und im Sommer mit einem Abwertungsdruck auf den französischen Franc auch erhebliche politische Verwerfungen erzeugten. Damals versuchte Frankreich, Deutschland aus dem Währungssystem zu drängen, um die Führung zu übernehmen –  aber Paris fehlten die Verbündeten. Nach teils grotesk verlaufenen Krisengesprächen und einer Regeländerung im Währungssystem beruhigte sich die Lage wieder.

Im Nachhinein ist der Schluss zulässig, dass Schlesinger aus ökonomischer Sicht mit seiner aus ausländischer Wahrnehmung häufig intransigenten Haltung richtig lag. Es hat keinen Sinn, aus politischen Gründen an marktfernen Wechselkursen festhalten zu wollen. Wahr ist aber auch, dass Schlesinger auf dem internationalen Parkett die Eigenschaften eines geborenen Diplomaten fremd blieben und vor allem Tietmeyer, aber auch Issing hinter verschlossenen Türen immer wieder eingreifen mussten, damit nicht zu viel Porzellan zerschlagen wurde.

Auch im Ruhestand blieb Schlesinger in seinem Haus in Oberursel an ökonomischen Themen interessiert. So entdeckte er beim Studium von Statistiken der Bundesbank das Thema der Target-Salden. Nachdem er, so wird es erzählt, auf seine Nachfragen von Ökonomen der Bundesbank wie der Europäischen Zentralbank keine befriedigenden Erklärungen erhalten hatte, wandte sich Schlesinger mit der Bitte um Aufklärung an den damaligen Ifo-Präsidenten Hans-Werner Sinn, der die Salden als Thema dann popularisierte.

Die Entwicklung der Währungsunion betrachtete er mit gemischten Gefühlen. Die Krisenpolitik der EZB im Anschluss an die Finanzkrise lehnte er, weil aus seiner Sicht nicht mit einer traditionellen Geldpolitik vereinbar, ab. Andererseits durften sich die fundamentalen Gegner der Währungsunion nie auf ihn berufen. „Man kann den Euro nicht einfach wieder abschaffen“, sagte er einmal im Gespräch mit der „Welt“. „Der Zusammenbruch der Währungsunion wäre eine Katastrophe – für alle Beteiligten.“ Am 23. Dezember ist Helmut Schlesinger im Alter von 100 Jahren gestorben, wie die Bundesbank nun mitgeteilt hat.