Früher Jugoslawienkrieg, heute Ukraine: Der Meinungskorridor will gut sortiert sein
35 Jahre Freitag, das heißt, sich eines Wunders zu besinnen. Es besteht schlichtweg darin, dass es dieses Blatt noch gibt, es nicht irgendwann strauchelte und unter dem Gras des Vergessens zu liegen kam. Freuden und Nöte des Überlebens verdienen es, ebenso gewürdigt zu werden wie Irrwege und Irrtümer, die nicht ausblieben. Überlebenswille beförderte die Kunst, es dem Freitag möglichst nicht anmerken zu lassen, unter welchen Umständen er zuweilen entstand.
Das hatte eine lebensbeschleunigende Wirkung. Arbeitszeit rann als Lebenszeit durch die Finger wie Wasser. Nichts ließ sich auffangen, alles versickerte auf Nimmerwiedersehen, ohne vergeudet zu sein – hoffte man zumindest. Das hatte viel mit den Zwängen linker Armutsökonomie zu tun wie mit einem zuverlässig wiederkehrenden Arbeitsrhythmus, als die Printausgabe noch das Maß der Dinge war.
Meetings am Mittwoch, dem „Umschalttag“, Donnerstag Konferenz mit Blattkritik der jüngsten und Planung der nächsten Ausgabe, Produktion und Imprimatur erster Seiten, Freitag dann der nächsten, Samstag und Sonntag Recherche und Autorschaft eigener Artikel, soweit Ehrgeiz und Expertise das hergaben, Montag und Dienstag Schlussredaktion bis in den Abend hinein mit den Kommentaren für die Seiten eins und zwei, der Reportage, dem Essay oder Interview auf der Seite drei. Es konnte bis Redaktionsschluss zum Tausch ganzer Seiten oder einzelner Artikel kommen, der Aktualität, den Machtverhältnissen in der Redaktion oder der Prominenz von Autoren bzw. Gesprächspartnern geschuldet.
Und dann war schon wieder Mittwoch.
Reiche Eltern sind nicht zu verachten
Der Takt des Tätig-Seins erinnerte an ein Laufrad, in dem man nicht von der Stelle kam, das aber bewegt sein wollte, damit es nie stillstand. Eine Ausgabe auszulassen, das hätte sich kaum je wieder aufholen lassen.
Mehr als drei Jahrzehnte für den Freitag zu arbeiten, das bedeutete, öfter als einem das lieb sein sollte, existenziellem Druck ausgesetzt zu sein. Nur ein Beispiel: Von Januar bis März 1995 hing das Damoklesschwert der Schließung über der Redaktion. Die Schulden und Liquiditätslücke ließen keine Wahl, bekamen wir zu hören. Die damaligen Eigentümer verkündeten das in einer Donnerstagskonferenz, in der das sonst geltende Rauchverbot aufgehoben war. So ernst also war die Lage. Und so aussichtslos?
Eine von der Redaktion angestoßene Spendenkampagne rettete das Blatt zunächst für ein Jahr, sofern die Redaktion ihre Rechte als Mitgesellschafter aufgab, was sie widerwillig, aber der Not gehorchend tat.
Eine Beschäftigung beim Freitag müsse man sich leisten können, erklärte Herausgeber Günter Gaus bei seinen Redaktionsbesuchen, wenn er in Fahrt kam und zu präzisieren pflegte: Reiche Eltern tun es auch.
Sich vor keinen Karren spannen
Der redaktionelle Wille, den Ansprüchen der jeweiligen Eigentümer gerecht zu werden – der Autor erlebte in drei Jahrzehnten deren drei – war gewiss vorhanden, aber schien doch den Erwartungen nie recht zu genügen. Die Verleger-Gruppe um den Berliner Arzt Wilhelm Brüggen und den Journalisten Wolfgang Storz setzte bei der Übernahme des Blattes 1996 auf das Crossover-Projekt. Es sollte überwinden helfen, was linke Reformkräfte soziokulturell und ideologisch trennte, um zunächst in Berlin linke Sozialdemokraten, grüne Politiker und eine undogmatische PDS einander näherzubringen.
Dem sollte der Freitag als publizistisches Podium dienen, nur konnte die Zeitung kein Zentralorgan der Crossover-Willigen sein, so verlockend es für die Verleger auch sein mochte, sich eines Sprachrohrs zu versichern. Dem Blatt haftete eine viel zu differenzierte und diffuse Aura an, als dass es geeignet war, sich einer Programmatik zu verschreiben, die einem politischen Auftrag glich. Es sei denn, die Eigentümer ließen sich dazu verleiten, die Zeitung zu subventionieren, koste es, was es wolle.
Im Prinzip wiederholte sich der Mythos Crossover nach 2015, als die Ära der Kanzlerin Angela Merkel ihren Zenit zu überschreiten begann. Das Ganze nannte sich nun R2G und war auf eine regierungsfähige und -willige rot-rot-grüne Allianz im Bund gemünzt. Ein so idealistischer wie illusionärer Ansatz, der ideologisch unbekümmert und nicht sonderlich realitätsversessen war, als er den Freitag durchdrang.
Erkennbar tiefer als während der späten 1990er Jahre in Berlin (im Vorfeld der Wowereit-Koalition mit der PDS) waren mittlerweile die Gräben zwischen den in Betracht kommenden Partnern. Geradezu unüberbrückbar. Die Jahre vor dem Ukraine-Krieg, erst recht die „Zeitenwende“, als der begonnen hatte, sollten das bestätigen. Die Linkspartei verfügte damals noch über eine Russland-Politik, vor allem ein Russland-Bild, das nicht der Maxime anhing; Wir heulen mit den Wölfen und reden von einem „imperialistischen System“, damit uns niemand mehr angreift und als nützliche Putin-Idioten schmäht. Das sollten fortan das BSW und Sahra Wagenknecht sein.
Erst Crossover, dann R2G – es ist alles andere als illoyal, eher das Gegenteil, dem Freitag zu empfehlen, niemandes Karren zu ziehen, der obendrein gar nicht gezogen werden kann, weil es ihn nicht gibt. Farbe zu bekennen und meinungsstark zu sein, das lohnt sich nur in eigener Sache, wenn man es riskiert und den vorhandenen Meinungskorridor auf die Probe stellt – am besten sprengt. Was ist damit gemeint? Eine Episode, die in etwa so alt ist wie der Freitag, mag das andeuten.
Dressur und Manege
Als dem Ostfernsehen, dem Deutschen Fernsehfunk (DFF) in Berlin-Adlershof, die Endlichkeit seines Daseins unwiderruflich vor Augen stand, meldete sich Ende Januar 1991 Tagesthemen-Moderator Hans-Joachim Friedrichs an. Er traf sich mit der Chefredaktion Nachrichten und Journale, für die ich damals arbeitete. Er komme aus zwei Gründen, ließ uns der Gast wissen: Aus Solidarität mit den Kollegen eines Senders, den es in einem Jahr nicht mehr geben werde, und um denen „reinen Wein“ einzuschenken, die das Glück hätten, von der ARD „übernommen“ zu werden.
Friedrichs wurde die Formulierung zugeschrieben, dass man sich als Journalist nie gemein machen dürfe mit einer Sache, „auch nicht mit einer guten Sache“, sondern stets über oder neben ihr stehen sollte. Bei dieser Begegnung allerdings redete er Klartext. Ich zitiere aus meinem Tagebuch vom 25. Januar 1991:
„Wir hören, dass Journalisten dressierte Pferde seien, die durch die Manege traben und denen der Peitschenknall bedeute, welches Tempo sie anschlagen sollen. Wer ausschert, ist raus.
Jeder trägt eine Plakette auf der Stirn, der sich Parteimitgliedschaften oder -bindungen entnehmen ließen. Das sei leider die Realität, auf die wir uns einstellen sollten. Es sei gewiss nicht falsch, die noch für ein Jahr zugestandenen Freiräume bei der Abwicklung unseres Senders zu schätzen. Der Eintritt in ein künftiges Journalistenleben, wenn überhaupt, werde den Ostlern einiges abverlangen.“
Rote Linien und Meinungskorridor
Ob es so kam, wie es „Hajo“ Friedrichs prophezeite, mögen die erzählen, die es über den MDR, den NDR oder den RBB oder welche Anstalt sonst in die ARD geschafft haben, sich das aber tunlichst verkneifen werden. Herrschen – verglichen mit den „Gesetzen der Manege“ beim Freitag nicht geradezu paradiesische Zustände. Ist nicht auch das eine Erklärung für seine Überlebenkunst?
Nimmt man den Mut zur Pluralität, dann gewiss. Denkt man an flankierende redaktionelle Stimmungen, ist Vorsicht geboten. Als ich im Sommer 1994 erstmals einen Leitartikel zum Bosnien-Krieg schrieb, enthielt der Text das Plädoyer, Belgrad nicht zum Alleinschuldigen und Erzschurken der jugoslawischen Tragödie zu erklären. Serbien habe als größter Teilstaat des einst föderativen Jugoslawien nun einmal ein starkes Interesse, die Sezession der Einzelstaaten nicht ausufern zu lassen. Die vorschnelle und vorlaute Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens durch Deutschland habe alles andere als friedensstiftend gewirkt.
Da war der Meinungskorridor auf einmal ziemlich schmal. Die Kulturredaktion stufte diese Thesen als „mittlere Katastrophe“ ein, die Kollegen der Politik schwiegen beredt. Der nächste Auftrag für einen Leitartikel ließ auf sich warten.
Die heiklen Themen 2025: Schmaler Meinungskorridor, Herausforderung auch für den „Freitag“
Was passiert 30 Jahre später, will man den Ukraine-Krieg nicht eine „imperiale Anmaßung“ Russlands, sondern eine „vom Westen provozierte Eskalation“ nennen, die sich hätte vermeiden lassen? Wird es als russische Propaganda verfemt oder als Tatsache respektiert, ginge ein Artikel darauf ein, dass die Kiewer Regierung seit 2014 Mahnmale schleifen lässt, mit denen gefallener Ukrainer und Russen gedacht wurde, die in der Sowjetarmee zwischen 1941 und 1945 kämpften? Ist es opportun, davon zu schreiben, dass sich Teile der ukrainischen Streitkräfte auf Nazi-Kollaborateure wie Stepan Bandera berufen?
Was sich im Meinungskorridor unterbringen lässt, will gut sortiert sein. Der Philosoph Richard David Precht sagte im Interview mit der Berliner Zeitung am 18./19. Oktober 2025: „Die Grenzen für das, was man nicht mehr sagen darf, ohne dass sich alle aufregen, sind in wenigen Ländern der westlichen Welt so eng gezogen wie in Deutschland. Und das ist in sehr kurzer Zeit passiert.“
Dagegen ist auch der Freitag nicht gefeit, auch wenn er anerkennt und duldet, dass man sich von der Seele schreibt, was gesagt werden muss. Und ein Peitschenknall ausbleibt.
Allerdings verdient ein gesellschaftliches Phänomen Beachtung, das sich erst in den vergangenen Jahren Geltung verschafft hat. Der Anspruch auf Autonomie beim eigenen Meinungsbild ist mittlerweile so unerschütterlich, dass darunter die Toleranz leidet, andere Meinungsbilder zu ertragen, geschweige denn nachvollziehen zu wollen. Früher, während des Kosovokrieges 1999 etwa, firmierte das als Gesinnungsethik, der moralisch schwer beizukommen war. Heute scheint der Schlüssel eine hypersensible Individualität zu sein, die als identitätsstiftend verehrt wird. Wie geht der Freitag damit um? Die nächsten 35 Jahre bieten Raum und Zeit.