Friedrich Merz: Das ist jetzt seine Wirtschaftskrise

Am Mittwoch hätte Friedrich Merz die Chance gehabt, all diejenigen Lügen zu strafen, die ihm eine zu starke Konzentration auf die Außenpolitik vorwerfen. Im Bundestag findet die Generaldebatte im Rahmen der Haushaltsberatungen statt. Größer ist die Bühne für wirtschaftspolitische Themen selten. Doch der Kanzler tut es wieder.

In seiner etwa halbstündigen Rede spricht er erst mal ausführlich über die Gefahr, die Europa und Deutschland durch den Krieg Russlands gegen die Ukra­ine drohe, über die Bedeutung der NATO, die Stärke der Bundeswehr. Das jüngste Treffen des deutsch-französischen Ministerrats und die Auswirkungen der Migrationspolitik seiner Regierung erwähnt Merz auch noch, bevor er schließlich auf den von ihm selbst ausgerufenen „Herbst der Reformen“ zu sprechen kommt.

Zu diesem sagt der Kanzler nicht viel Neues. Reformen seien erforderlich, wenn der Sozialstaat erhalten bleiben solle. Zur Rente immerhin die Ansage: „Der Generationenvertrag muss neu gedacht werden.“ Ob das auf eine grundsätzliche Rentenreform hindeutet, bleibt offen.

Er trat mit dem Versprechen eines Politikwechsels an

Schon am Vortag kann man Merz bei einem ähnlichen verbalen Brückenschlag beobachten. Da tritt der Kanzler auf einer Veranstaltung des Maschinenbauverbands VDMA auf und beginnt seine Rede ebenfalls mit der Außenpolitik. „Wir sind Zeitzeugen einer geradezu fundamentalen Veränderung der politischen und ökonomischen Machtzentren der Welt“, sagt Merz vor den Managern. Nur mit Frieden und Freiheit in Europa gehe es Deutschland gut. Außen- und Sicherheitspolitik ließen sich nicht mehr trennen.

Auf die Wirtschaftspolitik kommt Merz im weiteren Verlauf zwar auch noch zu sprechen, bleibt dabei jedoch vage. Die Bürgergeldreform sei auf „einem ganz guten Weg“, der Bürokratieaufwand der Unternehmen werde schon bald um 25 Prozent sinken. Konkreter soll es erst auf einer Kabinettssitzung im Oktober werden. Der Applaus ist höflich, aber nicht überschwänglich.

Als Merz noch Kanzlerkandidat war, antwortete er auf die Frage, wo der von ihm versprochene „Politikwechsel“ besonders wichtig sei: in der Wirtschaftspolitik. Auf einem Parteitag knapp drei Wochen vor der Bundestagswahl im Februar bekam der CDU-Vorsitzende langen Beifall für das Versprechen, dass sich mit ihm als Kanzler schon bis zur Sommerpause 2025 wieder Zuversicht im Land verbreiten werde.

Gestartet ist Merz dann aber nicht als Wirtschafts-, sondern als Außenkanzler. Eine Auslandsreise reihte sich an die nächste. Mal ging es um die Ukraine, mal um den Nahen Osten und immer wieder um den Zusammenhalt in Europa. Merz hat viel Lob dafür bekommen, dass Deutschland auf der internationalen Bühne wieder präsent ist, auch aus der Wirtschaft. Doch je länger die Regierung im Amt ist, desto mehr stellt sich die Frage, wann er sich mit ebenso viel Leidenschaft der Wirtschaftspolitik widmet.

Mehr als drei Millionen Arbeitslose

Der erhoffte Stimmungsumschwung bis zum Sommer ist ausgeblieben. Die Zahl der Arbeitslosen ist auf mehr als drei Millionen gestiegen. 150.000 Indus­triearbeitsplätze gingen laut der Bundesagentur für Arbeit binnen eines Jahres verloren. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre – ohnehin überschaubaren – Wachstumsprognosen für dieses und das kommende Jahr kürzlich nach unten korrigiert.

Im Kanzleramt will man sich demnächst mit der Auto- und mit der Stahlbranche beraten. Kürzlich traf sich Merz mit den Betriebsräten von Energiekonzernen. Es gibt jetzt mehr solcher Termine in seinem Kalender. Merz lobt bei diesen Treffen viel, betont die Bedeutung der jeweiligen Branche, verspricht Veränderungen. Der Druck ist hoch. Das ist jetzt nicht mehr die Wirtschaftskrise der Ampel, sondern die von Friedrich Merz.

Dass die deutsche Wirtschaft nach zwei Rezessionsjahren weiter nicht zurück auf den Wachstumspfad findet, liegt zum Teil an der Zollpolitik von Donald Trump, aber nicht nur. Zwar hat die Koalition relativ schnell nach der Amtsübernahme den „Investitionsbooster“ auf den Weg gebracht, der die Unternehmen steuerlich entlastet. Danach kam aber mehr Wachstumshemmendes als Wachstumsförderndes.

Das vom Kabinett beschlossene Rentenpaket kostet bis 2040 200 Milliarden Euro zusätzlich. Für die in Aussicht gestellte Stromsteuersenkung für alle ist dagegen kein Geld da. Noch dazu wird immer offensichtlicher, dass der durch die Grundgesetzänderung ermöglichte Schuldentopf mit 500 Milliarden Euro bei Weitem nicht nur für Infrastrukturprojekte ausgegeben wird, die Deutschlands Wachstumsperspektiven verbessern. Sportplätze, Freibäder, Kultureinrichtungen – Infrastruktur ist, was Politikern im Wahlkampf nutzt.

Dröge teilt gegen Merz aus

Es ist die Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen, die am Mittwoch im Bundestag den Finger in die Wunde legt und Merz an die schlechten Wirtschaftsdaten erinnert. Wäre Merz nicht Kanzler, sondern wie früher Oppositionsführer, spräche er dann nicht längst von einer „Merz-Pleitewelle“, fragt Katharina Dröge. Und sie legt noch einen drauf: „Stünden Sie nicht schon längst hier und würden sagen: Der kann es nicht?“

Was sowohl in der Wirtschaft als auch in der CDU viele erzürnt, ist die seit Wochen laufende Debatte über Steuererhöhungen. Im Koalitionsvertrag ist von einer Entlastung niedriger und mittlerer Einkommen die Rede. Zu Steuererhöhungen steht dort nichts. Die SPD interpretiert das so, dass Steuererhöhungen möglich sind, die Union so, dass sie ausgeschlossen sind. Was weniger Interpretationsspielraum lässt, ist die Lücke in der Haushaltsplanung: Mehr als 170 Milliarden Euro fehlen bis 2029.

Manche in der CDU zeigen sich offen dafür, „die Reichen“ steuerlich höher zu belasten, wobei es unterschiedliche Ansichten gibt, wer in diese Gruppe gehört. Andere sind kategorisch gegen höhere Steuern für hohe Einkommen und auch gegen Änderungen bei der Erbschaftsteuer.

Dass Unionsfraktionschef Jens Spahn vor einigen Tagen öffentlich andeutete, sich eine höhere Besteuerung von Erbschaften durchaus vorstellen zu können, kam nicht nur bei den Wirtschaftsverbänden, sondern auch in seiner eigenen Partei nicht gut an. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hielt prompt dagegen. Die SPD nahm den Ball nur zu gern auf. Wo Merz in der Steuerdebatte steht, ist unklar.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) nach seiner Rede in der Generaldebatte am Mittwoch im Bundestag
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) nach seiner Rede in der Generaldebatte am Mittwoch im BundestagOmer Messinger

In der Bundestagsdebatte taucht das Thema am Mittwoch sofort auf. Noch bevor Merz drankommt, spricht – wie üblich – jemand von der größten Oppositionsfraktion. So tritt Alice Weidel, die Partei- und Fraktionsvorsitzende der AfD, ans Mikrofon. Sie wirft Merz „Reformverweigerung“ und der CDU „Umfallerei in Serie“ vor. Das nächste „Umfallen“ der CDU deute sich bei der Erbschaftsteuer an, sagt Weidel. SPD, Grüne und Linke planten „einen neuen Raubzug gegen den unternehmerischen Mittelstand“.

Von links wird Merz dagegen angegriffen, weil er große Vermögen nicht genug besteuere. Auch hier wird die Erbschaftsteuer thematisiert. Der Kanzler steht dazwischen, will die Steuern „im Rahmen“ halten, sieht jedenfalls die Rettung des Sozialstaats nicht in einer höheren Belastung großer Vermögen. Matthias Miersch, der Vorsitzende der SPD-Fraktion, belässt es bei der Forderung, „die großen, breiten Schultern, die großen, großen Vermögen müssen sich stärker beteiligen in diesem Land“.

Dass die Erwartungen an Merz in der Wirtschaftspolitik so hoch sind, hat eine lange Vorgeschichte. Aus seiner frühen politischen Zeit ist noch sein Vorschlag einer radikalen Steuerreform in Erinnerung, die dazu führen sollte, dass die Steuererklärung auf einen Bierdeckel passt.

Ausgehebelte Schuldenbremse

Kein anderer Politiker gilt so sehr als Mann der Wirtschaft wie Merz, vor allem nach seiner Tätigkeit für das Finanzunternehmen Blackrock in den vergangenen Jahren. Als vorzeitig der Kampf um die Nachfolge von Olaf Scholz (SPD) im Kanzleramt begann, stellte Merz Bürgern und Unternehmen Steuersenkungen im Zuge einer großen Steuerreform in Aussicht. Außerdem versprachen er und seine Mitstreiter finanzielle Disziplin durch das Wahren der Schuldenbremse.

Friedrich Merz hat manche Wende gemacht auf dem Weg ins Kanzleramt, hat etwa die AfD erst als „Natter am Hals“ bezeichnet und dann mit ihrer Hilfe einen Bundestagsbeschluss zur Begrenzung der Migration gefasst. Aber keine 180-Grad-Drehung dürfte diejenigen, die ihn wegen seiner ökonomischen Haltung schätzen, so entsetzt haben wie die Ermöglichung einer Billionenschuld.

Kaum war die Wahl vorbei, hebelte Merz mit SPD und Grünen die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben weitgehend aus und schuf noch dazu das „Sondervermögen“ für die Infrastruktur und den Klimaschutz. Es ist eine gewaltige Hypothek für das Land. Bis zu 70 Milliarden Euro müssen im Jahr 2029 im Haushalt allein dafür eingeplant werden, die Zinslasten des Bundes zu begleichen – Geld, das für andere Ausgabezwecke fehlt. Mit immer eindringlicheren Worten mahnen Ökonomen, genau abzuwägen, wofür das Geld ausgegeben wird, nicht nur ein Wachstumsstrohfeuer damit zu entfachen, das schnell wieder erlischt.

Ob die von der CDU in Aussicht gestellten Kürzungen bei den Sozialausgaben kommen werden, ist fraglich. Auf markige Worte von Merz auf Wahlkampfveranstaltungen („Wir können uns dieses System einfach nicht mehr leisten“) folgte nach dem jüngsten Koalitionsausschuss der verbale Rückzieher. Merz versicherte den Sozialdemokraten, dass der Sozialstaat nicht geschliffen und auch nicht gekürzt würde. Letzteres hätte er nicht sagen müssen, er tat es aber trotzdem. Die Verhandlungsposition seiner Partei im „Herbst der Reformen“ stärkt das nicht.

Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU), Justizministerin Stefanie Hubig (SPD), Kanzler Friedrich Merz (CDU) und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) am Mittwoch im Bundestag
Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU), Justizministerin Stefanie Hubig (SPD), Kanzler Friedrich Merz (CDU) und Finanzminister Lars Klingbeil (SPD) am Mittwoch im BundestagOmer Messinger

Am Dienstag, einen Tag vor der Generaldebatte im Bundestag, sitzt Steffen Bilger in der ersten Etage eines Restaurants nur wenige Hundert Meter vom Reichstagsgebäude entfernt. Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, ein Christdemokrat aus Baden-Württemberg, bemüht sich nach Kräften darum, die sozialpolitischen Vorhaben der Koalition für den Herbst schönzureden. Er betont zum Beispiel, wie wichtig der Union die Aktivrente sei und welche Bedeutung Einsparungen beim Bürgergeld hätten. Das in der Sozialpolitik Geplante sei „natürlich weniger, als wir gerne machen würden“, beteuert Bilger. Schließlich sei allen klar, dass im Sozialstaat vieles nicht richtig laufe.

Viele CDU-Politiker müssen den Unterschied zwischen dem Versprechen eines Politikwechsels und den kleinen Schritten, die Merz an der Seite seines sozialdemokratischen Koalitionspartners in Wirtschafts- und Finanzfragen zu gehen gezwungen ist, mühsam verdauen.

Am deutlichsten wurde das schon beim Zuschnitt des Kabinetts. Carsten Linnemann, einer der engsten Vertrauten von Merz bis zur Regierungsbildung, hätte gern als Arbeitsminister christdemokratische Sozial- und Arbeitsmarktreformen durchgesetzt. Er musste aber, offenbar ohnmächtig, zusehen, wie Merz neben dem Finanz- und dem Verteidigungsministerium der SPD auch noch das Arbeitsministerium überließ. Dass dort mit Bärbel Bas eine SPD-Linke, die mit einem hervorragenden Ergebnis zur Parteivorsitzenden gewählt wurde, das Sagen hat, macht es für die Reformer in Merz’ Truppe schwer.

Scheu vor der nächsten Grundsatzdebatte

Zur Wahrheit gehört aber auch: In der Rentenpolitik ist es nicht nur die SPD, die Reformen ausbremst. Auch die Union scheut sich bislang aus Rücksicht vor ihren überwiegend älteren Wählern davor, den Anstieg der Renten zu verlangsamen, um die Beitragslast für die Jüngeren zumindest etwas zu dämpfen.

Erst langsam werden kritische Stimmen aus der Partei lauter, die noch Änderungen am Rentenpaket im parlamentarischen Verfahren fordern. Von Merz ist dazu wenig zu hören. Vielleicht erhöht der tiefe Streit zwischen den Koalitionären über die Wahl einer Verfassungsrichterin im Juli wie ein früher Blick in den Abgrund die Kompromissbereitschaft der Union. Bloß nicht noch eine Grundsatzdebatte, an der die Koalition zerbrechen könnte.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich ausgerechnet Merz, der immer auf eine größtmögliche Distanz zu Angela Merkel bedacht war, nun ihrer Amtsführung annähert. Auch Merkel wollte als Kanzlerin in der Außenpolitik glänzen und kam der SPD dafür innenpolitisch entgegen, zum Beispiel, als sie 2014 die jetzt von Ökonomen so scharf kritisierte abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren („Rente mit 63“) einführte. Die erste Anhebung der Mütterrente stammt ebenfalls aus dieser Zeit.

Man mag es heute kaum glauben, aber in den Jahren 2015 bis 2019 erzielte Deutschland Haushaltsüberschüsse, die Einnahmen waren höher als die Ausgaben. Die Differenz hätte gut in die Digitalisierung, die Infrastruktur oder die Verteidigung fließen können. Spricht man mit früheren Regierungsmitgliedern, warum dies nicht geschah, lautet die Antwort: weil das den Wählern nicht gefallen hätte.

Am Abend vor Merz’ Auftritt im Bundestag tritt Merkel in Berlin öffentlich auf. Sie macht das in letzter Zeit häufiger, oft mit unüberhörbarer Kritik an seiner Politik. In ihrer Rede vor der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ruft die frühere Kanzlerin angesichts von Kriegen und Krisen sowie der protektionistischen Politik von Trump zum Zusammenhalt Europas auf. Selten waren sich Merz und Merkel so einig.

Source: faz.net