Freiheit: Das kostbarste aller irdischen Waren

Das Jahr 2024 wird als ein an aktuellen Ereignissen sehr reiches Jahr in die Geschichte eingehen, auch wenn es noch gar nicht zu Ende ist. 2024 ist aber auch das Jahr der 75. Geburtstage. 75 Jahre alt wurden unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz, die NATO, der Europarat – und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

In einem programmatischen Artikel mit der nicht sehr bescheidenen Überschrift „Zeitung für Deutschland“ schrieben die Herausgeber in der Erstausgabe vom 1. November 1949: „Wir möchten noch einiges mehr, als nur eine gute Zeitung machen. Wir möchten in einer Zeit, in der die Freiheit keineswegs allein durch die Diktatoren, sondern ebenso durch Vermassung, durch Trägheit und Unduldsamkeit bedroht ist, das lebendige Gefühl für dieses kostbarste aller irdischen Güter entfachen.“

Diese Sätze sind heute so aktuell wie vor 75 Jahren. Sie sollten nicht nur als eine Erinnerung an eine ferne Vergangenheit gelesen, sondern als ein Zukunftsprogramm verstanden werden. Denn befinden wir uns heute nicht wieder in einer Situation, in der wir für die Bewahrung der Freiheit, dieses kostbarsten aller irdischen Güter, entschieden eintreten müssen?

Journalismus und Wissenschaft zusammendenken

Was hieß das damals? Zum Wohle der Freiheit sollte die F.A.Z. in voller publizistischer Unabhängigkeit von ihren Herausgebern auf „freiheitlich-staatsbürgerlicher Grundlage“ und damit im Geiste des Grundgesetzes geführt werden. Konkret verband sich damit ein Eintreten für die parlamentarische Demokratie sowie für eine „freiheitliche und soziale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“. Die Formulierung „freiheitliche und soziale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“ meint nichts anderes als „Soziale Marktwirtschaft“. Die Wirtschaftsredaktion der F.A.Z. hat daher Ludwig Erhards Eintreten für die Soziale Marktwirtschaft publizistisch im Grundsatz, wenn auch keineswegs unkritisch, unterstützt; nicht zuletzt in der seinerzeit auch als „Siebenjähriger Krieg“ bezeichneten Kartelldebatte in den Fünfzigerjahren. „Nur eine systematische, an Freiheit orientierte Wirtschaftspolitik schafft Wohlstand für alle“, schrieb Erhard

Die wirtschaftspolitische Linie der F.A.Z. wurde damals stark durch Erich Welter geprägt, der bis heute im Impressum der Zeitung als Gründungsherausgeber genannt wird, parallel aber als Professor ein Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz leitete und damit den Zugang der Wirtschaftsredaktion zur Wirtschaftswissenschaft verkörperte. Sein Nachfolger Jürgen Eick war 1977 einer der ersten Träger des Ludwig-Erhard-Preises. Die Verbindung zwischen Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftsjournalismus wurde anschließend von weiteren Mitgliedern der Redaktionsleitung gefördert, die an dieser Stelle nicht alle genannt werden können.

Aber im Rahmen einer Preisverleihung der Ludwig-Erhard-Stiftung darf natürlich die Erwähnung von Hans D. Barbier nicht fehlen, der viele Jahre Verantwortlicher Redakteur für Wirtschaftspolitik in der F.A.Z. war und anschließend die Ludwig-Erhard-Stiftung geleitet hat. Für meine Journalistengeneration war er gleichzeitig Lehrer und Sparringspartner. Wir Heutigen, die uns der Vermittlungsaufgabe widmen, stehen somit auf den Schultern von Riesen.

Sich dem öffentlichen Diskurs nicht entziehen

Demokratie und Freiheit erschienen über die Jahrzehnte selbstverständlich. Doch plötzlich befinden wir uns in einer Welt, in der Autokratien einen Aufschwung erleben, die Demokratie in vielen Ländern auf dem Rückzug erscheint und in Deutschland mehrere im Bundestag vertretene Parteien Nähe zu einem autokratischen Herrscher bekunden, der vor ziemlich genau 1000 Tagen in Europa einen mörderischen Angriffskrieg begonnen hat. Die Ära einer durch Freihandel geprägten Weltwirtschaft könnte abgelöst werden durch eine protektionistische multipolare Welt(un)ordnung, in der sich zumindest einzelne Blöcke feindlich gegenüberstehen. Mit Blick auf ein bekanntes Werk Karl Poppers lässt sich leider konstatieren: Viele Feinde der offenen Gesellschaft sehen ihre Zeit gekommen.

Was können die Verteidiger einer lebendigen, widerstandsfähigen Demokratie und einer freiheitlichen und sozialen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im neuen Zeitalter der Unsicherheit und der Bedrohung tun? Sie sollten sich trotz zahlreicher abgeschotteter Internetblasen, deren Teilnehmer vor allem Selbstvergewisserung, aber nicht unbedingt ­Erleuchtung suchen, und eines unverkennbaren Sittenverfalls im noch verbliebenen Teil des öffentlichen Diskurses nicht zurückziehen. Sie sollten aber auch darauf achten, nicht jenen Elitismus an den Tag zu legen, den Popper in seinem Buch über die offene Gesellschaft Platon nachsagte. Befänden wir uns in einer Polis im antiken Griechenland Platons, müssten die Verteidiger von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft auf die Agora, den Versammlungs- und Marktplatz, um sich dort im Volk Gehör zu verschaffen.

Mehr Ordnungspolitik, weniger Industriepolitik

Was bedeutet dies für den Diskurs in Wirtschaftsfragen? Wie vor 75 Jahren ist das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft der verbreiteten Vorstellung eines lenkenden, intervenierenden und nicht selten bevormundenden Staates entgegenzustellen. „Einfach mal durchregieren“, um den Titel der von Christoph Schmidt vor wenigen Tagen am Eucken-Institut gehaltenen Friedrich-von-Hayek-Vorlesung zu verwenden, kennzeichnet keinen starken, sondern einen schwachen Staat. Kurzum: Wir brauchen mehr Ordnungspolitik und weniger Industriepolitik.

Erhards Unterschrift: Ludwig Erhard (1897 bis 1977) war von 1949 bis 1963 der erste Wirtschaftsminister in der Bundesrepublik Deutschland. Von 1963 bis 1966 war er Bundeskanzler. Der Sitz der Ludwig-Erhard-Stiftung befindet sich in seinem früheren Haus in Bonn. 
Erhards Unterschrift: Ludwig Erhard (1897 bis 1977) war von 1949 bis 1963 der erste Wirtschaftsminister in der Bundesrepublik Deutschland. Von 1963 bis 1966 war er Bundeskanzler. Der Sitz der Ludwig-Erhard-Stiftung befindet sich in seinem früheren Haus in Bonn.  Ludwig-Erhard-Stiftung E.V.

Die Schwächen einer Industriepolitik, die Partikularinteressen bedient und eine ungute Nähe von Großunternehmen zur Politik herbeiführen kann, belegen die Erfahrungen mit großzügigen Subventionen durch die Bundesregierung und die Europäische Union. Für die vermeintliche Sicherung der Versorgung der deutschen Wirtschaft mit Chips wurden unter anderem dem amerikanischen Unternehmen Intel zehn Milliarden Euro für den Bau einer Fabrik in Magdeburg zugesagt. Trotz dieser sehr großzügigen staatlichen Unterstützung hat der Vorstand von Intel das Projekt zunächst um zwei Jahre verschoben. Mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit wird es überhaupt nicht realisiert. „Die Volkswirtschaft ist kein Patient, den man pausenlos operieren kann“, schrieb Erhard. Das heißt aber auch: Das nicht nur in der Politik weitgehend verschüttete Wissen über Ordnungspolitik und Soziale Marktwirtschaft bedarf einer Popularisierung.

Denn der Staat, der vornehmlich Regeln setzt und auf ihre Einhaltung achtet und sich mit Interventionen zurückhält, ist ein starker Staat, weil er gerade in unsicheren Zeiten ein essenzielles Element von Sicherheit bereitstellt, in dessen Rahmen sich die wirtschaftliche Privatinitiative am besten entfalten kann. Äußere und innere Sicherheit als Kernaufgaben des Staates finden wir schon im vierten Buch von Adam Smiths 1776 erschienenen „Wohlstand der Nationen“. Wie so vieles andere ist auch das Verständnis für diese Kernaufgaben des Staates in der jüngeren Vergangenheit verloren gegangen. Auf den ersten Blick könnte es nahezu aussichtslos erscheinen, gegen die sehr verbreitete Vorstellung des wohlmeinenden und wohlhandelnden Staates zu argumentieren.

Dem Geist der Aufklärung verpflichtet

Die Schwierigkeit der Aufgabe beschrieb Erich Welter schon in den Fünfzigerjahren wie folgt: „Die Planwirtschaft untergräbt zwar die persönliche Freiheit und ihr ökonomischer Wirkungsgrad ist gering. Aber sie weist einen großen Vorteil auf: Sie ist eine verständliche Ordnung“, schrieb er. Dagegen beruhe die Marktwirtschaft „nicht auf Subordination unter einen einzigen Plan, sondern auf Wettbewerb und Koordination von unzähligen Plänen, die mittels in Geld ausgedrückter Preise miteinander verknüpft sind. Der Wirkungsgrad dieses Systems, der die persönliche Freiheit grundsätzlich unangetastet lässt, ist ungleich höher.“ Doch fürchteten die Menschen, in einer Marktwirtschaft „Opfer einer Anarchie“ zu werden.

Die Vermittlung marktwirtschaftlicher Kenntnisse sei eine Bildungsaufgabe, schloss Welter. Er war dem bürgerlichen Geist der Aufklärung verhaftet, die dem Menschen, um Immanuel Kant zu zitieren, aufgegeben hatte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Verstand und Bildung, zwei der großen Ideale des 19. Jahrhunderts, würden die Voraussetzung für einen rationalen Wettbewerb der Ideen in einer offenen Gesellschaft schaffen. Heute erzählen uns manche Leute, dies seien gescheiterte Ideen aus einer überwundenen Vergangenheit.

Das sind sie nicht. Soziale Marktwirtschaft bleibt nach Erkenntnissen der Demoskopie ein überwiegend positiv besetzter Begriff. Aber die Bereitschaft, sich für sie zu engagieren, setzt bei vielen Menschen eine tiefe Enttäuschung über die nachteiligen Folgen einer interventionistischen Wirtschaftspolitik für den eigenen Wohlstand voraus. Eine solche Situation existiert vielleicht nur alle paar Jahrzehnte, aber heute liegt sie vor. Das Wissen um die nicht einfache Lage der deutschen Wirtschaft und ihre Perspektiven breitet sich aus; ebenso wächst die Erkenntnis, dass die Lenkungsfähigkeiten des Staates sehr begrenzt sind.

Wirtschaftliche Herausforderungen erklären und einordnen

Der technische Fortschritt ermöglicht es einer Redaktion, genau zu analysieren, wie häufig und wie intensiv Artikel in digitalen Produkten gelesen werden. Für die F.A.Z. ist nicht nur ein starkes Interesse an Nachricht und Kommentierung, sondern gerade auch an Erklärung und Einordnung erkennbar. Nach wie vor interessieren sich Leser für Ideen und Konzepte, aber für eine größere Zahl von Menschen ist die Relevanz eines Themas für ihr eigenes Leben sehr bedeutsam.

Die mannigfaltigen wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit betreffen das Leben der Menschen in vielfacher Weise. Ein hohes Preisniveau ist spürbar im Portemonnaie, die Bedrohung des traditionellen Exportmodells der Industrie gefährdet Millionen überwiegend bisher sicherer und gut bezahlter Arbeitsplätze, der Verfall öffentlicher Infrastruktur sowie das Nachlassen des Bildungssystems sind unübersehbar und die sogenannte grüne Transformation wirft die Frage nach den wirtschaftlichen Kosten einer raschen, dirigistisch organisierten Dekarbonisierung auf. Diese Liste ließe sich leicht verlängern.

Analysen des Leseverhaltens zeigen: Der in sozialen Medien häufig beobachtbare Dunning-Krueger-Effekt, der Menschen umso bestimmter argumentieren lässt, je weniger sie von einem Thema verstehen, darf nicht verallgemeinert werden. Viele Leser wollen nach wie vor Bescheid wissen, und sie sind dankbar für Erklärungen und für Einordnungen – durch eine kompetente Redaktion, aber auch durch externe Experten. Die populäre Pauschalkritik an der modernen Volkswirtschaftslehre, sie sei nur noch eine von vorwiegend mathematisch geschulten Ökonomen betriebene, empirisch orientierte Stoffhuberei, trifft nicht zu. Ebenso stimmt die Kritik nicht, die meisten Ökonomen betätigten sich vornehmlich als Ideologen.

Zahlreiche Ökonomen zeigen sich auf beeindruckende Weise in der Lage, dem interessierten Laien wirtschaftliche Zusammenhänge gleichermaßen verständlich wie pointiert zu erläutern. Stellvertretend für diese Ökonomen sei an dieser Stelle Stefan Kolev genannt, der mit dem Ludwig-Erhard-Forum in Berlin vernehmlich für Marktwirtschaft und Ordnungspolitik wirbt.

Den Feinden der Freiheit nicht das Feld überlassen

Dieser Austausch wird umso wichtiger, je komplizierter die Fragen sind. Wenige aktuelle Themen seien genannt: Das marktwirtschaftliche Programm für die Weltwirtschaft lautet Freihandel, aber in Deutschland nimmt die Zahl der Ökonomen und auch der Wirtschaftsvertreter zu, die im Falle höherer Zollmauern in den Vereinigten Staaten und in China auch eine Erhöhung der europäischen Zollmauern befürworten. Welche wirtschaftlichen Folgen hätte es, wenn der neue amerikanische Präsident von der Europäischen Union eine deutlich härtere handelspolitische Gangart gegenüber Peking verlangte? Und wie soll der diagnostizierte erhebliche Bedarf an Investitionen in unserem Land finanziert werden?

Erich Welters vor mehr als 70 Jahren formulierter Auftrag für die Wirtschaftsredaktion der F.A.Z., ökonomische Kenntnisse zu vermitteln, besitzt für uns noch heute Gültigkeit. Ludwig Erhard hat uns mit einem Buch wie „Wohlstand für alle“ gelehrt, dass es nicht reicht, Eliten anzusprechen, aber dass es eben auch möglich ist, breitere Schichten zu erreichen. Dies erscheint gerade in einer Zeit wichtig, in der Demokratie, offene Gesellschaft, wirtschaftlicher Wohlstand und damit die Soziale Marktwirtschaft dringend Unterstützung benötigen. Wir dürfen den Feinden der Freiheit nicht das Feld überlassen. Wir müssen ihnen entgegentreten. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist in den vergangenen 75 Jahren für die Freiheit eingetreten. Sie wird dies auch in Zukunft tun.

Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Version der Dankesrede, die am 21. November 2024 in Bonn anlässlich der Verleihung des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik gehalten wurde. Die Hauptpreise erhielten die Unternehmerin Susanne Klatten und Gerald Braunberger; die Nachwuchspreise gingen an Anselm Küsters sowie ein aus Sarah Heuberger, Marie Hecht und Jannik Werner bestehendes Team. Zudem wurde ein Video eines mit der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) gemeinsam durchgeführten Schüler-Videowettbewerbs prämiert, das die Bedeutung der Demokratie für die Soziale Marktwirtschaft thematisiert. Gewonnen hat eine Schülergruppe des Gymnasiums Mariano-Josephinum aus Hildesheim.