Freie Demokratische Partei-Papier: Der große Lindner-Technischer Überwachungsverein

Die Forderungen des Bundesfinanzministers sind am Freitag an die Öffentlichkeit gelangt. Seitdem befeuern die 18 Seiten die Spekulation um das Aus der Ampel. Die FDP pocht darauf, dass Christian Lindner ein „ehrliches Angebot“ gemacht habe und will nun mit SPD und Grünen über Reformen reden. Was taugen die Vorschläge inhaltlich?

1. Unternehmenssteuern senken

Deutschland positioniert sich im internationalen Standortwettbewerb als ein Land, das keine Investitionen und keine Gewinne haben will. So beschreibt der Ökonom Clemens Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Instituts, die steuerliche Lage. Im Kreis der großen Industriestaaten stehe Deutschland mit einer Steuerlast von 29,9 Prozent auf Unternehmen an der Spitze, sagt Fuest. „Es ist keine günstige Position, der Allerteuerste zu sein“, sagt der Wissenschaftler. Die Vorschläge des Finanzministers, die Unternehmenssteuerlast mittelfristig auf 25 Prozent zu senken, hält Fuest in der Stoßrichtung hin zu mehr Wachstum für zielführend.

Kostenlos, oder selbstfinanzierend auf kurze Sicht, sei das aber nicht zu haben, erklärt Fuest. „Man muss es sehen wie eine Investition“, erklärt er. „Man lässt den Unternehmen mehr, um Wachstum zu erreichen, und muss dafür erst mal auf Steueraufkommen verzichten.“ Eine Untersuchung des Ifo-Instituts aus dem Jahr 2021 deutet darauf hin, dass die Steuerausfälle in den ersten Jahren geringer ausfallen, wenn die Regierung Investitionen mit einer beschleunigten Abschreibung anregt und nicht mit einer Steuersatzsenkung. Fuest präferiert deshalb, dass die Koalition kurzfristig Abschreibungserleichterungen mit der Perspektive einer mittelfristigen Steuersatzsenkung verbindet. Die Abschreibungserleichterung wirken nach seinen Worten ähnlich wie die von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vorgeschlagene Investitionsprämie mit dem Unterschied, dass diese auch Unternehmen mit Verlusten belohnt. Das will Lindner nicht.

Der Finanzminister schlägt zudem vor, den Solidaritätszuschlag auf die Einkommensteuer in zwei Stufen abzuschaffen, um Unternehmen, Freiberufler, Selbständige und Hochqualifizierte zu entlasten. Für Ökonom Fuest ist das eine „zweite, nicht vorrangige Priorität“. Die positiven Wachstumseffekte einer Senkung des Solidaritätszuschlags seien wahrscheinlich weniger stark ausgeprägt, sagt er. Rein unter dem Gesichtspunkt der Wachstumswirkung priorisiert er die Entlastung bei den Unternehmenssteuern einschließlich Abschreibungserleichterungen und Lindners Ideen zur Bürokratieentlastung, von der EU-Regulierung über das Energieeffizienzgesetz bis hin zu den Berichtspflichten über die Lieferketten oder zur Verfolgung von ESG-Zielen.

2. Klimapolitik entschärfen

Lindner zufolge belasten in der Klima- und Energiepolitik übertriebene nationale Ziele die Haushalte und Unternehmen, ohne dass das im internationalen Kontext klimapolitisch Wirkung entfaltet. Er fordert, das deutsche Ziel der CO2-Neutralität bis 2045 auf den EU-Termin 2050 zu verschieben. Sonst übernehme die Bundesrepublik innerhalb des EU-Emissionshandels ETS die Aufgaben anderer Staaten. Alle Sektorziele seien abzuschaffen, da Verkehr und Gebäude von 2027 an ohnehin in den ETS einbezogen würden. Er setzt „insbesondere auch beim internationalen Klimaschutz auf die Bepreisung von CO2“.

Manuel Frondel vom Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) sagt: „Es ist sehr vernünftig, weil immens kostensparend, Deutschlands Treibhausgasneutralitätsziel von 2045 auf 2050 zu verschieben“. Das hohe Tempo, mit dem Deutschland auf sein Klimaziel hinarbeite, „führt zu extrem teuren Fehlern, allen voran die unüberlegte Forcierung des Ausbaus der Photovoltaik-Leistung von heute 90 auf 215 Gigawatt im Jahr 2030, obwohl Stromspeicher, Netze und die Nachfrage fehlen“. Nationale Alleingänge seien kontraproduktiv: „Wenn sich Deutschland als klimapolitischer Musterschüler aufspielt, dabei die eigene Wirtschaft schädigt und die Politik wie beim Heizungsgesetz die Bevölkerung gegen sich aufbringt, wird das keine Nachahmung in der Welt finden.“

Andreas Löschel von der Ruhr-Universität Bochum hält eine stärkere europäische Ausrichtung für sinnvoll, weil der erweiterte Emissionshandel Minderungen dort anreize, wo sie am günstigsten seien, unabhängig von der Nation. „Auch eine stärkere Fokussierung auf die CO2-Bepreisung und die Begrenzung überlappender Regulierung ist wichtig“, sagt Löschel. Allerdings bedürfe es dafür massiver politischer Anstrengungen. „Die notwendigen höheren und verlässlichen Preise im zweiten Emissionshandel werden auf europäischer Ebene nur schwer umsetzbar sein.“

Streichung der Subventionen für Ökostrom „längst überfällig“

Lindner hält ein gesetzliches Kohleausstiegsdatum zudem für nicht nötig. Er will den Klimafonds und „klimapolitisch motivierte Dauersubventionen“ abschaffen. Die Vorgaben des Heizungsgesetzes könnten zeitlich um fünf Jahre verschoben und inhaltlich auf weniger als 65 Prozent Erneuerbarenquote gesenkt werden. Lindner möchte die in Deutschland staatlich garantieren Ausbaupfade für Wind- und Solarkraft aufgeben und die EEG-Förderung auf null senken. Nur so könnten der Netz- und Speicherausbau Schritt halten und negative Strompreise vermieden werden. Die bisherigen Netzausbaupläne hält er für überdimensioniert und überteuert. Die Abscheidung und Verpressung von CO2 (CCS) müsse auch an Land möglich und für alle Emissionen zugelassen werden, auch die Kohleverstromung umfassen. Anzustreben sei auch der Ausbau der heimischen Gasförderung samt Fracking. Kernkraft erwähnt Lindner nicht.

Die Streichung der Subventionen für Ökostrom nach 25 Jahren EEG-Förderung hält Ökonom Frondel für „längst überfällig“. Es sei richtig, CCS einzusetzen und die eigene Erdgasförderung anzukurbeln: „Es ist weitaus treibhausgasärmer, Erdgas per Fracking in Deutschland zu gewinnen, anstatt es als LNG in Tankern tiefgekühlt aus den USA zu importieren.“ Frondel setzt sich für einen einheitlichen europäischen CO2-Preis nach Einbeziehung von Verkehr und Gebäuden in den ETS ein: „Das würde helfen, auch die USA und China von den Vorteilen eines Emissionshandels zu überzeugen.“ Ein weiteres Aufteilen der Emissionsreduktionsverpflichtungen auf die EU-Länder (Effort-Sharing) wäre mit einem einzigen Emissionshandelssystem und einem für alle Sektoren einheitlichen CO2-Preis überflüssig.

Klimaökonom Löschel betont, dass es darum gehe, negative Emissionstechnologien sinnvoll in den ETS einzubeziehen. Die teure Förderung von PV-Aufdachanlagen erweise sich zunehmend als Herausforderung für das Stromsystem. „Diese Förderung sollte massiv zurückgefahren werden und insgesamt die Vergütung der erneuerbaren Energien stark an die Strommärkte gekoppelt werden.“ Die Märkte brauchten dann aber auch variable Strompreise, um richtige Knappheitssignale zu setzen. Die Stromnachfrage sei auf dem niedrigsten Stand seit 1990 gefallen. „Deshalb sollten bei den Netzentwicklungsplanungen auch Szenarien mit einem deutlich geringeren Anstieg des Stromverbrauchs berücksichtigt werden.“

3. Rente anpassen

Im Wendepapier dringt die FDP auf die „Eindämmung des Anstiegs der Sozialversicherungsbeiträge“. Das Gegenteil bewirkt jedoch das geplante „Rentenpaket II“ der Ampel, das die Rentenkasse mit Zusatzkosten von 500 Milliarden Euro bis 2045 belasten würde. Denn durch Stilllegung des Dämpfungsfaktors für die Rentenerhöhungen soll ein Mindestsicherungsniveau der Rente von 48 Prozent garantiert werden. Das würde den scharfen Ausgabenschub durch den Wechsel der fast 20 Millionen Babyboomer in die Rente verstärken.

Statt den Gesetzentwurf, ein Herzensanliegen der SPD, zu stoppen, verlangt die FDP zwei zusätzliche Maßnahmen zur „Sicherung der Generationengerechtigkeit: Einerseits soll der Abschlag bei vorzeitigem Rentenbeginn steigen, andererseits die Berechnung des Mindestrentenniveaus verändert werden. Eckpunkt wäre dann künftig nicht mehr ein Rentner, der 45 Jahre Durchschnittsbeiträge gezahlt hat, sondern etwa 46 bis 47 Jahre, da das gesetzliche Rentenalter nun höher liegt und länger gearbeitet werden muss. Beides klingt technisch, könnte die Rentenausgaben aber durchaus bremsen, wenn SPD und Grüne mitziehen.

Korrekturen reichen nicht aus

Beides „ist hilfreich“, urteilt der Rentenfachmann Axel Börsch-Supan. Allerdings reichen diese Korrekturen aus seiner Sicht nicht annähernd aus, um die Kosten der Stilllegung des Dämpfungsfaktors auszugleichen. „Klare Antwort nein!“, sagt er der F.A.Z. Selbst „die superoptimistische Berechnung des Bundesarbeitsministeriums“ sehe den Beitragssatz um rund vier Punkte ansteigen. Superoptimistisch sei diese Berechnung, weil sie auf Basis der 15. Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts (Ende 2022) von einer niedrigeren Lebenserwartung, einer steigenden Geburtenrate und hoher Migration ausgehe – inzwischen seien die gegenteiligen Tendenzen jedoch eingetreten.

Immerhin könnte die Neuberechnung des Eckrentners in den kommenden zehn Jahren bis zu etwa einem halben Beitragspunkt einsparen. Wirksamer wären die von der FDP geforderten „versicherungsmathematisch korrekten“ Abzüge. Bisher verlieren Frührentner, die keine 45 Beitragsjahre haben, 3,6 Prozent für jedes Jahr vorgezogenen Rentenbeginns (höchstens vier Jahre). Zum Ausgleich der zusätzlichen Ausgaben, die der Rentenkasse entstehen, wären allerdings zwischen 5,5 und 6,5 Prozent nötig, sagt Börsch-Supan. Ließen sich SPD und Grüne darauf ein, könnte dies nach Modellrechnungen den Beitragsanstieg um ein bis zwei Punkte dämpfen, je nachdem, ob auch das Rentenniveau angepasst wird. „Wie sich höhere Abschläge auf den dann sich ergebenden Beitragssatz auswirken, ist jedoch schwierig zu prognostizieren, weil es vom Verhalten der Menschen abhängt: Arbeiten sie länger? Nehmen sie die Abschläge in Kauf? Steigt der Erwerbsminderungsanteil?“

4. Arbeiten attraktiver machen

In Deutschland wird zu wenig gearbeitet, findet Lindner. Es brauche dringend verbesserte Rahmenbedingungen, um die Arbeitszeiten in Deutschland „signifikant auszuweiten“. Im Blick hat der FDP-Chef vor allem die Bürgergeldempfänger. In der Praxis führen die schlecht aufeinander abgestimmten Leistungen Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag dazu, dass es sich für viele Betroffene nicht oder kaum lohnt, mehr zu arbeiten. „Das System sollte reformiert werden“, schreibt Lindner.

Ifo-Ökonom Andreas Peichl findet das noch zu zurückhaltend formuliert. „Das System sollte nicht reformiert werden, es muss reformiert werden“, sagt er. Peichl selbst hat in den vergangenen Jahren verschiedene Reformvorschläge gemacht. Am meisten Sympathie hat der Volkswirt dafür, Transferempfängern vom ersten verdienten Euro an, 70 Prozent zu entziehen. Derzeit ist das System kompliziert, wer Arbeit aufnimmt, kann am Monatsende sogar weniger Geld in der Tasche haben. „Bei meinem Vorschlag gibt es zwar auch Verlierer und etwas mehr Transferempfänger, aber der Anreiz zu arbeiten steigt deutlich“, sagt Peichl.

Lindner will außerdem die „Besitzstandsregelung“ abschaffen. Diese Regel verhindert, dass ein wegen falscher Prognosen zu stark erhöhter Regelsatz umgehend wieder gesenkt wird. In der Phase mit hoher Inflation ist genau das passiert. Peichl hält eine Reform für „ökonomisch sinnvoll“, am besten verändere man auch gleich noch die Berechnungsmethode, damit es erst gar nicht soweit komme.

Reformieren will der FDP-Chef zudem die Arbeitszeitregeln. Statt einer täglichen Höchstarbeitszeit will Lindner nur noch eine wöchentliche Grenze. „Alles, was da zur Flexibilisierung beiträgt, ist richtig“, kommentiert Peichl. Auf dem Arbeitsmarkt verschiebe sich die Macht durch den demographischen Wandel und den Fachkräftemangel zugunsten der Arbeitnehmer. „Ich sehe deshalb keine Gefahr, dass eine solche Reform zur Ausbeutung von Arbeitskräften führt“, sagt Peichl. Insbesondere für Wissensberufe seien die aktuellen Regeln nicht mehr zeitgemäß.

Zu einem etwas skeptischeren Fazit kommt Christian Dustmann, Arbeitsmarktökonom des University College London. „Ich stimme voll und ganz zu, dass Arbeitsanreize gestärkt werden müssen“, sagt Dustmann. Er hätte aber gerne mehr über die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt gehört und wie diese gefördert werden könne. „Der Strukturwandel in der Industrie wird in vielen Bereichen zu Arbeitsplatzverlusten führen, in anderen aber auch neue Arbeitsplätze schaffen“, sagt der Forscher. Um diese Übergänge einfacher zu machen, brauche es Anreize und Unterstützung für Mobilität, sowohl geographisch als auch durch berufsübergreifende Weiterbildung.