Free Gaza ruft es überall – daher die Massenabschiebung von Afghanen ist egal?
Die massenhaften Abschiebungen afghanischer Flüchtlinge aus Pakistan werden oft ignoriert, während der internationale Fokus auf Konflikten im Nahen Osten liegt – auch die von Yousuf, der vor Verfolgung und Gewalt flieht
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Von Rafah hörte man viel, auch aus Beirut berichten die Nachrichten jetzt. DieMassenvertreibungen durch israelische Panzer und Bomben schockieren die Menschen und „Free Gaza“ mobilisiert viele in Deutschland und Europa. Torkham jedoch ist ein Ortsname, von dem die wenigsten hier gehört haben werden. Der Grenzübergang zwischen Afghanistan und Pakistan ist Schauplatz der größten Massenvertreibungen der Gegenwart.
„Ich bin hier aufgewachsen, doch nun muss ich weg, obwohl Pakistan meine Heimat ist“, erzählt mir Yousuf am Telefon. Er ist nicht einfach irgendein Protagonist einer Geschichte, sondern mein Cousin. Kurz nachdem die Sowjetunion Afghanistan zu Weihnachten 1979 überfiel, flüchteten weite Teile meiner Familie. Während mein Vater und einige andere es nach Europa geschafft hatten, mussten andere in der Region bleiben. Zwei meiner Onkel, darunter auch Yousufs Vater, gingen nach Peschawar und gründeten dort, wie viele andere Afghanen und Afghaninnen, ihre Familien. Sie entfremdeten sich teils von Afghanistan, während sie in Pakistan eine neue Heimat fanden.
Wenn Yousuf Farsi spricht, höre ich seinen leichten Urdu- und Paschto-Akzent. Im Gegensatz zu uns wuchs er viel stärker mit diesen beiden Sprachen auf. Er hat mit dem Kabul, in dem seine Eltern und Geschwister bereits vor einigen Jahren abgeschoben wurden, wenig gemein. „Afghanen wie ich werden gesucht und mit Gewalt abgeschoben“, sagt Yousuf. Ihm fehlen afghanische Dokumente. Seine pakistanische ID-Karte ist abgelaufen. Nach Afghanistan, das seit drei Jahren wieder von den militant-islamistischen Taliban kontrolliert wird, möchte er nicht.
Die fadenscheinige Begründung, mit der die meisten Afghaninnen und Afghanen gerade aus Pakistan abgeschoben werden: kollektiver Terrorverdacht. Dass dieser Vorwurf ausgerechnet von einem Staat wie Pakistan kommt, der jahrzehntelang militante Gruppierungen im Nachbarland unterstützt hat, allen voran die Taliban, und selbst in Staatsterror etwa gegen paschtunische oder belutschische Minderheiten involviert ist, ist purer Zynismus.
Verdrängter Exodus
600.000 afghanische Geflüchtete mussten das Land in diesem Jahr (?) verlassen. Mindestens 30.000 von ihnen wurden mit Gewalt abgeschoben. Damit gehört der afghanische Massenexodus bereits zu den größten Vertreibungen der Gegenwart. Sie mussten ohne ihr Hab und Gut gehen. In pakistanischen Großstädten wurden afghanische Geflüchtete gejagt, eingesperrt und gefoltert. Greise und Kinder wurden von Polizisten oder anderen bewaffneten Gruppen niedergeknüppelt.
Als die Vereinten Nationen die Abschiebepläne Pakistans kritisierten, verkündete die Regierung im Juli, die Geflüchtetenausweise von rund 1,5 Millionen Afghanen um ein Jahr verlängern zu wollen.
Das internationale Interesse an den Massenvertreibungen daran hält sich in Grenzen. Während auch in Pakistan viele Menschen für die Rechte von Palästinensern und Palästinenserinnen auf die Straße gehen, scheinen sie sich für die Repressalien des eigenen Staates kaum zu interessieren. Selbiges ist auch in den sozialen Medien der Fall. Nahezu täglich macht die pakistanische Autorin Fatima Bhutto, die einer prominenten Politiker-Familie entstammt, auf Instagram oder X auf den Krieg in Gaza aufmerksam. Sie hat Hunderttausende von Followern. Posts zur Situation von Afghanen und Afghaninnen in Pakistan lassen sich nicht finden.
Diese Haltung ist exemplarisch für die Gesellschaften in vielen mehrheitlich muslimischen Staaten. Der Fokus liegt fast überall auf Nahost. Dort scheinen die Ungerechtigkeiten einfach gestrickt zu sein, während die Emotionen hochkochen. Von diesem Narrativ profitieren repressive Regime wie das pakistanische. Der Geist von „Free Gaza“ gilt eben nicht für jeden.