Frauenbewegung | Einheit ohne Gleichheit: Die verpasste feministische Revolution nachher dieser Wende

Mitte der 1980er Jahre schrieb die Feministin, Musikerin und Sozialwissenschaftlerin Christina Thürmer-Rohr: „Ich plädiere also für diese ganze verrottete Gegenwart. Sie ist unsere einzige Gelegenheit. Sie ist das Leben, das wir haben. Sie und keine andere birgt den Stoff, um unsere Kräfte zu entwickeln.“ Das Zitat ist ein Fundstück auf dem empfehlenswerten Blog der feministischen Studien, um den es hier aber nicht näher gehen soll.

Vor allem die „verrottete Gegenwart“ entfaltet Triggerwirkung, als sei dieser Begriff eine Art verbale Ewigkeitschemikalie. 1868 postulierte Karl Marx, dass sich gesellschaftlicher Fortschritt exakt messen ließe an der gesellschaftlichen Stellung des „schönen Geschlechts“. Für das „schöne Geschlecht“ und sein in Klammern gesetztes „die Hässlichen eingeschlossen“ hätte er heute einen Shitstorm zu erwarten, was nichts an der Tatsache ändert, dass der Mann wahr geschrieben hat.

Einheit ohne Frauen

Nun könnte man wie in der Eingangsszene des Kubrick-Films 2001. Odyssee im Weltraum einen Knochen in die Luft werfen und mehr als 100 Jahre harter Kämpfe für Frauenrechte, blutiger Schlachten, immenser Fortschritte und fürchterlicher Rückschläge vorbeiziehen lassen, um dann kurz in den auf 1989 folgenden Jahren zu verharren. Die schienen den Stoff zu beinhalten, unsere Kräfte zu entwickeln und die verrottete Gegenwart aufzubrechen. Denn gerade war die Erfahrung gemacht worden, dass es möglich ist, ein ganzes System zu stürzen, das sich für ewig und wahr erklärt hatte. Warum also nicht auch gleich noch das Patriarchat hinterher?

Am 3. Dezember 1989 stiegen die Hexen des 20. Jahrhunderts in die Berliner Volksbühne hinab und gründeten den Unabhängigen Frauenverband (UFV). Vielleicht würden sich „die langen Linien des Patriarchats“ (Antje Schrupp, die auch einen guten Blog betreibt) stören, aufbrechen oder gar unterbrechen lassen. Schließlich drohte den Frauen im Osten ein Rollback in nicht unwesentlichen Fragen.

Gesetzlich geregelter Schwangerschaftsabbruch, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ökonomische Unabhängigkeit – das alles stand auf dem Spiel. Die DDR hatte mitnichten das Patriarchat abgeschafft, aber aus verschiedenen Gründen auf einem recht hohen Niveau Gleichberechtigung gesetzlich verankert. Und wenn nun schon Transformation angesagt war (die dann real aber nicht umgesetzt wurde), ließe sich ja vielleicht auch an dieser Stellschraube drehen.

Den Einigungsvertrag handelten Männer aus und räumten bei der Gelegenheit ab, was als notwendige, ganz sicher nicht hinreichende Bedingung für mehr Gleichberechtigung hätte gelten können. Eines Abends schliefen verheiratete Ostfrauen ein und wachten am nächsten Morgen als Teil einer Zugewinngemeinschaft (übrigens ein sehr ehrliches Wort für Ehe) auf. Ihr Körper gehörte nicht mehr ihnen und Gender-Pay-Gap mussten sie erst buchstabieren lernen, aber das auf brachiale Weise. Heute misst der Gender-Care-Gap übrigens rund 44 Prozent.

Das andere Patriarchat im Westen

Die so unterschiedlichen Erfahrungswelten ließen sich nicht so einfach übereinanderlegen. Es gab Missverständnisse zuhauf, die sich nicht nur daran festmachten, dass sich ostdeutsche Frauen gern mit „Ich bin Lehrer, Maschinist, Ingenieur, Dispatcher“ vorstellten. Nicht mal gendern konnten oder wollten die.

Umgekehrt schauten die aus dem Osten etwas ratlos aus der Wäsche, wenn bei Zusammenkünften in den Vorstellungsrunden so oft der Satz fiel „Bei der Frage Kinder oder Beruf habe ich mich für den Beruf entschieden.“ Auch sie hatten in einer Gesellschaft gelebt, die strukturelle männliche Dominanz, gekoppelt mit einer wesentlich männlich besetzten politischen Gerontokratie, nicht abgeschafft hatte. Aber vor solcherart Entscheidungen hatten sie bislang nicht gestanden.

Es sollte seine Zeit dauern, sich auf die allem zugrunde liegende Matrix zu besinnen, jene langen Linien des Patriarchats, die weit über das hinauswiesen, was die konkurrierenden Gesellschaftssysteme in den vergangenen vierzig Jahren in dem Bereich an Fortschritten und Rückschlägen vorzuweisen hatten. Was nicht zur Folge hatte, dass daraus ein neuer, starker, grenzüberschreitender Feminismus entstand. Zwar wurde immer wieder der Ruf nach einem neuen Feminismus laut, aber die Lesarten, was darunter zu verstehen ist, waren doch sehr verschieden.

2007 tauchte ein neuer Typus Feministinnen (gerade war der Begriff „Alphamädchen“ aufgekommen, der in sich schon eine Herabwürdigung beinhaltete) auf. Die sogenannte dritte Welle des Feminismus wurde ausgerufen. Deren Protagonistinnen seien pragmatisch, weniger ehrgeizig, weniger politisch, weniger kämpferisch. Also irgendwie genehm.

Wellness-Feminismus nannte Alice Schwarzer das und meinte wohl, der neue Feminismus knüpfe nicht oder zu wenig an die alten Kämpfe an, verlöre die „universale männliche Vorherrschaft“ (Angela Saini, Die Patriarchen. Auf der Suche nach dem Ursprung der männlichen Herrschaft) aus dem Auge. Kann frau so nicht unterschreiben. Auch wenn die Rückschläge größer statt kleiner werden. Man denke nur an die zunehmende Gewalt gegen Frauen.

2013 initiierte die Feministin Anne Wizorek via Twitter den Hashtag #aufschrei. Tausende Frauen schrieben über ihre Erfahrungen mit sexueller Belästigung und Diskriminierung. Womit wir bei der verrotteten Gegenwart wären, die gerade nicht den Anschein macht, als böte sie den Stoff, „unsere Kräfte zu entwickeln“.

Wir haben es mit einem möglicherweise exponentiellen Anwachsen körperlicher, verbaler, digitaler Gewalt gegen Frauen zu tun. Mit einem politischen Rechtsruck, der ein Generalangriff auf die mühsam erkämpften Errungenschaften feministischer Bewegungen und auf alle kleinen und größeren Siege im Kampf um die Gleichberechtigung aller Geschlechter ist. Der Knochen in 2001. Odyssee im Weltraum könnte auch wieder und im Zeitraffer 100 Jahre zurückgeworfen werden.

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Der Freitag wird 35 Jahre alt!

Am 9. November 1990 erschien die erste Ausgabe des Freitag – einer Fusion des ostdeutschen Sonntag und der westdeutschen Volkszeitung. Mit dem Untertitel Die Ost-West-Wochenzeitung begleitete er die deutsche Einheit von Anfang an aus einer kritischen Perspektive.

Wir wollen bloß die Welt verändern: Mit unserem Ringen um die Utopien der Gegenwart, mit unserem lauten Streiten und Nach-Denken, mit den klügsten Stimmen und der Lust am guten Argument finden wir heraus, was es heißt, links zu sein – 1990, die vergangenen 35 Jahre, heute und in Zukunft.

Dazu gratulieren uns Slavoj Žižek und Christoph Hein, Tahsim Durgun und Margot Käßmann, Svenja Flaßpöhler, Sahra Wagenknecht, El Hotzo und viele weitere Interviewpartnerinnen, Autoren und Wegbegleiterinnen des Freitag.

Lesen Sie dies und viel mehr in der Jubiläumsausgabe der Freitag 45/2025 und feiern Sie mit uns!