Frankreichs Schulden drohen aus dem Ruder zu laufen

Fast 60 Tage nach der Parlamentswahl hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron noch immer keinen neuen Premierminister ernannt. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU wird unverändert von Ministern regiert, die seit Mitte Juli nur noch geschäftsführend im Amt sind. Die Gesetzgebung steht wegen der schwierigen Mehrheitsverhältnisse in der Nationalversammlung faktisch still.

Das hat vor allem für die Haushaltsverhandlungen weitreichende Folgen. Diese hinken dem regulären Zeitplan hinterher und drohen sich durch die politische Lähmung weiter zu verzögern. So hatte der geschäftsführende Premierminister Gabriel Attal den anderen Ressorts erst in der zweiten Augusthälfte Ausgabenobergrenzen mitgeteilt, die sich aus einem ersten Entwurf ergeben. Das ist ein Monat später als üblich.

Die Mitglieder der Finanzausschüsse in der Nationalversammlung und im Senat warteten gar bis Anfang dieser Woche auf Eckdaten, die das Finanzministerium für gewöhnlich Mitte Juli verschickt. Die gesetzlich vorgegebene Frist, bis zu der eine Regierung den Gesetzentwurf für einen neuen Haushalt spätestens ans Parlament übermitteln muss – der erste Dienstag im Oktober –, droht gerissen zu werden.

Zumal vor der Übermittlung noch eine Prüfung durch den Hohen Rat für öffentliche Finanzen, der dem Rechnungshof angegliedert ist, und dem Conseil d’État als höchstem französischen Verwaltungsgericht vorgeschrieben ist. Im Umfeld von Premierminister Attal hält man ein paar Tage Verzögerung für verfassungskonform. Wichtig sei, dass dem Parlament anschließend 70 Tage für die Haushaltsdebatte bleiben.

Das wäre damit illusorisch

Brummte die Konjunktur und sprudelten die Steuereinnahmen, wäre das Konfliktpotential wohl überschaubar. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie die vom Finanzministerium nun an die Parlamentarier verschickten Dokumente zeigen, aus denen die Zeitung „Les Echos“ zitiert. Demnach ist es um die französischen Staatsfinanzen noch schlechter bestellt als bislang bekannt. Schon im laufenden Haushalt wären Milliardeneinsparungen oder höhere Einnahmen nötig, um das geplante Haushaltsdefizit noch zu erreichen.

Dieses droht laut den jüngsten Berechnungen aus dem Ministerium auf 5,6 Prozent zu steigen – nachdem der Zielwert erst im Frühjahr von 4,4 auf 5,1 Prozent korrigiert werden musste. Hintergrund seien zum einen geringere Steuereinnahmen und zum anderen „ein extrem schneller Anstieg der Ausgaben der Gebietskörperschaften“. Dort und in den Ministerien, die mit dem Sozialsektor zu tun haben, werde „auf Teufel komm raus Geld ausgegeben“, zitierte die Zeitung „La Tribune“ einen hochrangigen Vertreter aus dem Finanzministerium.

Doch damit nicht genug. So könnte sich die Fehlentwicklung der französischen Staatsfinanzen, vor der man im Haus des scheidenden Finanzministers Bruno Le Maire warnt, im Jahr 2025 sogar noch weiter verschärfen. Statt der bislang anvisierten 4,1 Prozent droht nach den Berechnungen ein Anstieg des Haushaltsdefizits auf 6,2 Prozent. Wie von der scheidenden Regierung geplant, zum Ende von Macrons Amtszeit im Jahr 2027 wieder bei 3 Prozent zu landen, wie es die europäischen Verträge vorsehen, wäre damit illusorisch.

Unter verschärfter Beobachtung

Um die Neuverschuldung aber nicht völlig aus dem Ruder laufen zu lassen, wird die künftige Regierung um Steuererhöhungen kaum umhinkommen. Macron hat dies bislang rigoros abgelehnt. Vertreter der linken Parteien, mit denen seit Wochen Regierungsgespräche laufen, drängen hingegen unter anderem auf eine Wiedereinführung der Vermögensteuer.

Auch eine höhere Körperschaftsteuer steht im Raum. Beides wäre eine finanzpolitische Kehrtwende, nachdem Macron in den vergangenen Jahren vor allem die Steuerlast für Unternehmen spürbar reduziert hat. Dies gilt als wichtiger Baustein für die gesteigerte Attraktivität des Standorts Frankreich.

Brisant ist das Zusammenspiel aus innenpolitischer Lähmung und Schuldenstrudel, da Frankreich schon seit Monaten unter verschärfter Beobachtung aus dem Ausland steht. Wegen der unsoliden Staatsfinanzen hat die EU-Kommission im Juni ein Defizitverfahren eröffnet. Bis zum 20. September muss Paris demnach seine mittelfristige Finanzplanung nach Brüssel schicken, das heißt darlegen, wie es die Neuverschuldung perspektivisch zu senken gedenkt. Angesichts der fehlenden Regierung und vagen Haushaltsentwicklung dürften diese Zahlen wertlos sein.

Dies beobachtet man in Berlin mit Sorge. „Frankreichs Bekenntnis zur Stabilitätspolitik und einem stabilen Euro ist wenig ausgeprägt“, heißt es aus Diplomatenkreisen. Dort warnt man, dass Deutschlands Schultern nicht unendlich breit sind, um die Stabilität der Währungsunion zu tragen.

Deutlich schlechter entwickelt

Kaum geringer ist die Besorgnis über Frankreichs Staatsfinanzen, die politische Lähmung und drohende Steuererhöhungen aufseiten von Investoren und Unternehmen. Mit der Parlamentsauflösung Anfang Juni ist der Renditeabstand zwischen deutschen und französischen Papieren mit zehnjähriger Laufzeit von knapp 50 zeitweise auf mehr als 80 Basispunkte hochgeschnellt.

Ein solcher Risikoaufschlag gegenüber den als sehr sicher geltenden Bundesanleihen wurde zuletzt während der europäischen Schuldenkrise erreicht. Nach wie vor beläuft sich der Abstand auf mehr als 70 Basispunkte. Der französische Aktienleitindex CAC 40 hat sich in den vergangenen Monaten deutlich schlechter entwickelt als die jeweiligen Pendants in Deutschland und Großbritannien.

Die großen Ratingagenturen haben allesamt Warnschüsse abgegeben. Die politische Unsicherheit „kann sich nicht günstig auf die Investitionen der Haushalte wie auch der Unternehmen auswirken, die sich schon in einer schlechten Lage befinden“, sagte der Generaldirektor des nationalen Statistikamts Insee, Jean-Luc Tavernier, vorige Woche „Les Echos“.