Frankreich/Algerien | Bruch mit Algerien: Frankreichs Kehrtwende in jener Westsahara-Frage

Zu fünf Jahren Haft und einer beachtlichen Geldstrafe wurde am 27. März der algerisch-französische Schriftsteller Boualem Sansal von einem Gericht in Dar El Beida bei Algier verurteilt. Die beiden Hauptanklagepunkte lauteten „Gefährdung der nationalen Sicherheit“ und „Volksverhetzung“. Sie bezogen sich auf Aussagen Sansals im Magazin Frontières, das der französischen Rechten nahesteht, und zu dessen Redaktionsbeirat der Autor gehört. Sansal hatte Verständnis für den Anspruch Marokkos auf die Westsahara geäußert und zu verstehen gegeben, dass große Teile Westalgeriens einst marokkanisch gewesen seien.

Der Angeklagte habe den Islam pauschal mit Islamismus gleichgesetzt und Israels politische Rolle verharmlost, so ein weiterer Vorwurf vor Gericht. Da unweit der spanischen Exklave in Marokko, Melilla, eine gemeinsame israelisch-marokkanische Militärbasis entstehen soll, die wiederum nicht weit von der algerischen Grenze entfernt läge, und auch eine Kooperation der beiden Länder zur Herstellung von Drohnen geplant ist, reagiert Algerien wohl besonders empfindlich.

Aber letztlich hat Sansal bestenfalls fragwürdige Meinungen geäußert, weshalb das jetzige Urteil auf internationale Proteste stößt. Dass Algerien seinen Mangel an Rechtsstaatlichkeit ausgerechnet an einem zwar historisch wenig versierten, aber international renommierten Autor demonstriert, spielte sich vor dem Hintergrund der tiefsten Krise zwischen Frankreich und Algerien, seit dessen Unabhängigkeit 1962, ab. Sie hat viel mit den instabilen Verhältnissen in Paris zu tun, die andauern, seit Emmanuel Macron Anfang Juni 2024 die Nationalversammlung aufgelöst hat. Seine rechte Wunschkoalition verlor die Neuwahl, doch Marcon weigerte sich beharrlich, die siegreiche Linksallianz mit der Regierungsbildung zu beauftragen; seitdemscheiterten zwei der von ihm ernannten Ministerpräsidenten daran, einen rabiaten Sozialabbau durchzusetzen.

Emmanuel Macron kaschiert Stagnation

Macron kaschiert innere Stagnation mit außenpolitischem Aktivismus in Sachen Ukraine, um bis zum Ende seines Mandats im Mai 2027 durchzuhalten. Dazu braucht er den Beistand der extremen Rechten des Rassemblement National (RN), die er mit Konzessionen in der Migrationspolitik zu ködern sucht. Zugleich wird im Verhältnis zu Algerien bei einigen Positionen eine 180-Grad-Wende vollzogen. Noch 2022 hatte Macron Algier mit einer großen Regierungsdelegation besucht, um die ökonomischen und kulturellen Beziehungen voranzubringen. Vereinbart wurde auch eine binationale Historikerkommission, die sich der Kolonialgeschichte mit dem Ziel gegenseitiger Annäherung widmen sollte.

Dass etliche Sahel-Staaten wie Mali oder Niger die militärische wie auch wirtschaftliche Kooperation mit Frankreich gekappt haben, stellt eine tiefe Kränkung für die koloniale Nostalgie und den Traditionalismus der französischen Rechten dar. Um deren Gunst buhlend, ist Macron der US-Sahara-Politik gefolgt und auf einen Marokko-freundlichen Kurs bedacht. Ende Juni 2024 erkannte er in einem Brief an König Mohamed VI. die „Marokkanität“ der Westsahara an und bekräftigte das am 29. Oktober in einer Rede vor dem Parlament in Rabat.

Algerien sah sich brüskiert, weil es seit jeher die von der UNO geforderte Unabhängigkeit der Westsahara verteidigt und darin mit der EU übereinstimmt. Die Position von letzterer bekräftigte auch der Europäische Gerichtshof am 4. Oktober 2024 eindrücklich: Da wurden endgültig alle Verträge mit Marokko über Fischereirechte und Lebensmittelimporte annulliert, „die ohne Zustimmung des Volkes der Westsahara“ geschlossen wurden.

Auf Macrons Pro-Marokko-Affront reagierte Algier mit dem Rückruf seines Botschafters und der Kündigung eines Abkommens über das Ausstellen von Pässen für illegal in Frankreich lebende Algerier. Seitdem brodelt in Paris eine Propagandaoffensive gegen Algier, die weit über das Thema Westsahara hinausreicht. Es gibt jede Menge Hasstiraden, dazu behördliche Repressalien gegen Personen aus der gut fünf Millionen Menschen zählenden algerischen Community.

Obwohl eher das Gegenteil richtig ist, beklagen Rechte und Ultrarechte, dass der historische Diskurs die destruktive Rolle Frankreichs als Kolonisator maßlos übertreibe und „Wohltaten der Kolonisierung“ Algeriens verschweige. Marine Le Pen, deren Vater maßgeblich für Folterungen während des algerischen Unabhängigkeitskrieges verantwortlich war, spielt sich als Schutzpatronin derjenigen auf, die „einst gehofft hatten, dass Algerien französisch bleibt“.

Paris will in Algerien als wohltätige Kolonialmacht erinnert sein

Zwar verstehe sie, wenn „Völker unabhängig sein wollen“. Völlig falsch aber sei, „dass die Kolonisation ein Drama war“. Frankreich habe Algerien ein „Kapital an ökonomischer Infrastruktur hinterlassen“, mit dem sich große, aber ungenutzte Entwicklungschancen geboten hätten. Sie verschwieg, dass 90 Prozent der muslimischen Bevölkerung bis zur Unabhängigkeit nicht einmal die Grundschule besuchen durften. Oder dass die fruchtbarsten Böden in Algerien Franzosen gehörten und es außer der Erdölförderung keinerlei industrielle Basis gab. Le Pen verstieg sich zum Verdikt, Algeriens Ökonomie sei in „einem katastrophalen Zustand“. Dabei könnte das Land dank seiner Gas- und Ölvorräte das „Norwegen des Maghreb“ sein.

Es bleibt nicht bei verbalen Attacken dieses Kalibers. Rechte Politiker drohen damit, Algerienstämmige abzuschieben. Innenminister Bruno Retailleau von der Partei Les Républicains will mit Internet-Influencern anfangen, die sich mit mehr oder weniger großem Geschick gegen einen araberfeindlichen Rassismus äußern. Dumm nur, dass die algerischen Konsulate zur Zeit keine Rückführungen prüfen, geschweige denn die nötigen Papiere ausstellen. Trotzdem ließ Retailleau den 59-jährigen Boualem N., der unter dem Pseudonym „Doualem“ gut 170.000 Follower auf Tiktok hat, wegen eines angeblichen Aufrufs zur Gewalt in ein Handelsflugzeug nach Algier setzen, noch bevor das ein Gericht bestätigen konnte. Von der algerischen Grenzpolizei abgewiesen, kehrte „Doualem“ im gleichen Flugzeug zurück.

Der 2022 von Macron mit der Leitung des französischen Parts der binationalen Historikerkommission beauftragte Benjamin Stora, der aus einer jüdisch-algerischen Familie kommt, bemüht sich bei öffentlichen Auftritten, die Spannungen zu mindern. Dass er versucht, das Chaos in der Erinnerungskultur zu entwirren, brachte ihm die Anerkennung des algerischen Präsidenten Abdelmadjid Tebboune ein.

Vielleicht lässt sich Macron von seinem Historiker belehren. Zuletzt rief er zur Mäßigung auf, nachdem auch Tebboune seine Bereitschaft erkennen ließ, in Maßen zu deeskalieren. Frankreichs Haltung zur Westsahara-Frage sei aus seiner Sicht nicht neu, verstoße allerdings klar gegen das Völkerrecht. Die Krise, die nur eine von vielen sei, so Tebboune zweckoptimistisch, werde man wie alle anderen bewältigen. Boualem Sansal zu begnadigen, würde gewiss dazu beitragen.