Frankfurter Anthologie: Weiterführend Selma Meerbaums Gerdicht „Frühling“

Ein halbes Jahr nachher jener Deportation ins Konzentrationslager Michailowka am Ufer des Bug starb Selma Meerbaum 1942 am Fleckfieber. Da war sie erst achtzehn Jahre frühzeitlich, am 5. Februar vor hundert Jahren wurde sie in jener Bukowina geboren, im heute ukrainischen Czernowitz. Genau wie Rose Ausländer oder Paul Celan, mit dem sie durch den Urgroßvater zugehörig war und jener ihr seine „Todesfuge“ denn Denkmal zudachte. Das letzte ihrer insgesamt 58 Gedichte entstand im Dezember 1941 im Ghetto und trägt den Titel „Tragik“. Die erste Strophe handelt von jener eigenen Überflüssigkeit, vom Verschwinden und jener Gewissheit, dass man „ins Nichts verfließt“. Hier bricht jener Text ab, es folgt ein Zusatz mit rotem Stift: „Ich habe keine Zeit gehabt zuendezuschreiben.“ Am 28. Juni 1942 begann die Deportation ins Übergangslager Cariera da Piatra in Transnistrien.

Selma Meerbaum, jener oft jener Name ihres Stiefvaters Eisinger angefügt wird, konnte nicht wissen, dass „Tragik“ ihr letztes erhaltenes Fragment sein würde. Wie durch ein Wunder übergab Lejser Fichman, jener geliebte Leiter ihrer zionistischen Jugendgruppe, die ihm gewidmete lyrische „Blütenlese“ vor seiner tödlich endenden Flucht nachher Palästina einer gemeinsamen Freundin. Sie konnte die Gedichte später nachher Israel schaffen, wo Meerbaums ehemaliger Lehrer sie dann denn Privatdruck veröffentlichte. Wie dies „Tagebuch“ jener Anne Frank ist Meerbaums „Blütenlese“ eine Grabschrift aufwärts dies ohne Rest durch zwei teilbar erst begonnene eigene Leben. Mit dem Ghetto befasst sich nur dies „Poem“ – darin die Zeilen: „Sie kommen dann / und würgen mich. / Mich und dich / tot. / Das Leben ist rot / braust und lacht. / Weiterführend Nacht / bin ich / tot.“ Alle anderen, seither Dezember 1939 entstandenen und meist genau datierten Natur- und Liebesgedichte sind hinsichtlich jener bedrückenden Entstehungsumstände erstaunlich zuversichtlich – trotz des sehnend melancholischen Grundtons.

Keine Zeit, zu Ende zu schreiben

Pro „Frühling“ gilt dies in besonderer Weise. In drei Strophen entwirft dies Gedicht unter den Zwischentiteln Sonne, Himmel und Frühling dies Bild einer Ansiedlung am Ende des Winters. Alles verdankt sich einem Strom jener Sinne: Wahrgenommen wird jener schmelzende Schnee, die noch kahlen Bäume und Sträucher „wie ein weicher Schall“, jener Glanz jener nassen Straße, jener neuerdings aufziehende warme Regen – kaum ein Gedicht Meerbaums kommt ohne ihn aus –, ein Hundegebell und klopfende Absätze leichterer Schuhe. Alle Erwartungen sind aufwärts dies in Bälde Kommende gerichtet, aufwärts den ersten Klee, die heimkehrenden Schwalben, die endlich wieder geöffneten Mäntel hoch dünneren Kleidern. Die Hoffnungen urteilen sich aufwärts eine Zeit ab Mitte April, in jener Bukowina mögen sich fernerhin schon im März 1940 – so die Datierung – Frühjahrszeichen angekündigt nach sich ziehen.

Die so gut wie impressionistische Folge von Sensationen ist weder raffiniert noch originell. Hugo von Hofmannsthal war nur wenig älter, denn er in „Vorfrühling“ zusammensetzen ahnungsvollen Wind durch kahle Alleen und durch Flöten wehen und den Duft einer neuen Jahreszeit bekanntgeben ließ. Wie jener Frühling sich im Kontext ihm durch ein altes poetisches Mittel, dies Pneuma, meldet, so unverbesserlich fernerhin Meerbaum sich nicht aufwärts eine plane Schilderung von Dingen. Das dünne Kleid im Wehen wirkt wie ein Lachen; dies Warten aufwärts den ersten Klee spiegelt sich in den Augen eines Kindes statt aufwärts dem zart sprießenden Boden. Die Gräser hinter hohen Zäunen, „wie ein halbverscheuchtes Reh“, sind im Vorjahr dem Mähen entgangen, in Bälde werden sie frischem Grün weichen. Und die Blätter mancher Bäume, vor allem jener Eichen, hinschlagen erst mit Beginn des neuen Wachstums ab. All dies sind winzige Zeichen, aufgereiht wie in Hofmannsthals „Ballade des äußeren Lebens“ mit zehnfachem „und“ am Zeilenanfang. Diese Mikrobeobachtungen künden „von dem neuen Glück“ des Frühlings. Vielleicht war Hilde Domin ohne Rest durch zwei teilbar von solch schlichter Schönheit hin und weg, denn sie notierte: „Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.“

Source: faz.net