Fortschritt | Walfang: Die sagenhafte Geschichte der ersten großen Energiewende

Lampenöl, Kerzen, Fett: Über Jahrhunderte war der Wal eine zentrale Ressource für unsere Wirtschaft – bis er fast ausgerottet war und wir auf Erdöl umstellten. Nun steht wieder eine Energiewende an. Was können wir von den Walen lernen?

Wale können reimen. Ihre Lieder bestehen aus einzelnen Themen, Sätzen und Tönen, viele dieser Sätze enden ähnlich, einzelne Themen erhalten Muster, die sich über mehrere Themen hinweg wiederholen, auf diese Weise entstehen ambitionierte Rhythmen. Für menschliche Ohren handelt es sich bei den Gesängen der Buckelwale zwar in erster Linie um verschiedene Grunz-, Stöhn-, Seufz-, Rülps- und Quietschlaute, sie werden vom Wal aber wirklich sehr aufwendig arrangiert und klingen gerade als Gesamtwerk sehr schön. Vor der Küste von Australien machte man sogar die Entdeckung, dass die Wale nicht einfach nur so vor sich hin singen, sondern dass sie die Lieder anderer Wale Stück für Stück übernehmen – wie bei einem Hit, den plötzlich alle singen. Alle Wale gemeinsam machten sich daran, diesen Hit weiterzuentwickeln: Man fand heraus, dass die Lieder wandern.

Was zunächst nur an der Westküste gesungen wurde, hatte sich einige Zeit später auch an der Ostküste durchgesetzt, obwohl die Wale der Westküste niemals selbst an die Ostküste reisen. Im Lauf von ein paar Jahren schwappte der aktuelle Hit einmal durch den halben Pazifik – von Australien über Fidschi, Tonga, Amerikanisch-Samoa, die Cook-Inseln bis Französisch-Polynesien. So ist es auch im Atlantik. Die Lieder verbreiten sich über viele Tausend Kilometer, springen von einem Wal zum nächsten, und während im Osten noch die Hits der Vorjahre gesungen werden, basteln die Wale im Westen bereits an den neuen. Immer wandern die Lieder von West nach Ost, niemals in umgekehrter Richtung. Niemand weiß, warum.

Aus ihrem Speck stellten wir allerlei her – unter anderem im Ersten Weltkrieg Glycerin für Bomben

Foto: Oliver Dirr

Wir wissen heute, dass Wale intelligente, soziale und fühlende Wesen sind, es sind Säugetiere, sie mögen zwanzig Meter lang und sechzig Tonnen schwer sein, im Grunde aber sind Wale – wie wir.

Dass uns das irgendwann aufgefallen ist, war entscheidend dafür, dass es sie heute überhaupt noch gibt. Denn dass dem Wal Sympathie und Zuneigung entgegengebracht werden, ist eine eher neue Entwicklung, das gibt es so erst seit ein paar Jahrzehnten – davor war es für über Tausend Jahre allgemein üblich, den Wal bei möglichst jeder Gelegenheit zu töten. Der Walfang war eine weltumspannende, gefräßige Industrie, auf dem Rücken dieser Tiere wurde die halbe Weltwirtschaft errichtet, das kann man sich heute kaum vorstellen. Trotzdem ist es gelungen, dieses finstere Kapitel schließlich zu beenden – und gerade heute ist es durchaus hilfreich, sich wieder daran zu erinnern, stehen wir doch erneut vor der gewaltigen Aufgabe, die Weltwirtschaft auf andere und erneuerbare Energiequellen umzustellen.

Bevor die Menschheit den Wal im späten 20. Jahrhundert als fühlendes Wesen anerkennt, verwendet sie ihn jahrhundertelang als Ressource. Die Ersten, die den Wal kommerziell ausbeuten, sind die Basken. Seit dem frühen Mittelalter jagen sie nicht mehr für den Eigengebrauch, sondern für Geld. Mit den Basken wird der Wal zur Ware, und dieses Problem wird er nie wieder los.

Zunächst hat man es auf den Glattwal abgesehen, einen gemütlichen Sechzigtonner mit garagengroßem Maul, der in Zeitlupe durch die Meere paddelt. Im Englischen hört er auf den Namen „right whale“, „der richtige Wal“ für die Jagd – er ist nicht nur der langsamste Wal, sondern auch der mit der dicksten Speckschicht, und genau darum geht es: In einer Zeit, in der man von Erdöl noch nichts weiß, wird der Wal zum wichtigsten Rohstoff der Welt. Man zerkocht den Speck zu Öl, das man dringend für die vielen Lampen braucht, mit denen man die schnell wachsenden Städte beleuchtet, damit dort in der nächtlichen Dunkelheit nicht immer so viel gestohlen und gemordet wird. Natürlich gibt es pflanzliche Alternativen, die Basken können den Wal aber derart günstig liefern, dass Walprodukte einfach praktischer sind – auch im Mittelalter legt man eben Wert auf „convenience“.

Als nach hundert Jahren kaum noch Glattwale zu finden sind, konzentriert man sich auf den Pottwal. Das noch junge Amerika steigt zum Zentrum des weltweiten Walfangs auf, die Zeit des „Yankee Whaling“ beginnt. Der Pottwal gilt als das größte und gefährlichste Raubtier des Planeten, aber gerade in Amerika fehlt es nun wirklich nicht an Mut oder Tatendrang.

Gejagt wird in kleinen Ruderbooten, mit grobschlächtigen Harpunen, die von Hand geworfen werden, es ist ein Kampf von Angesicht zu Angesicht. Ein einmal getroffener Wal kann kaum mehr entkommen, sein Tod ist nur eine Frage der Zeit. Mit jedem Auftauchen wird er schwächer, Stück für Stück kommen die Walfänger heran, und sobald sie in Schlagdistanz sind, stechen sie mit langen Lanzen auf ihn ein, es ist ein fürchterliches Gehacke, bis irgendwann Blut aus dem Atemloch quillt – das untrügliche Zeichen, dass Herz oder Lungen durchbohrt sind. Anschließend wird der Wal zum Schiff gerudert, längsseits festgemacht und über ein Gerüst wie eine riesige Orange geschält. Der Speck wird noch an Bord zerkocht und in Fässer gepackt, Brennmaterial gibt es genug, man nimmt einfach die Teile des Wals, die man ohnehin nicht benötigt, die Tiere verbrennen sich quasi selbst.

Schon immer war die Idee von Amerika auf der Eroberung und Unterwerfung der Natur aufgebaut. Die Geschichte der „frontiers“ und ihres stetigen Vordringens in den Westen ist so langsam auserzählt, es braucht dringend neue Grenzen, neue Ziele, neue Helden – der Walfang kommt da wie gerufen. Schon damals zeigt sich das enorme Talent dieser noch jungen Nation, große Geschichten zu erzählen, der Walfang wird heillos romantisiert, verklärt und überfrachtet, mit der Wahrheit an Bord hat das allerdings nicht immer etwas zu tun.

Der Walfang zieht Tausende geradezu magisch an, vor allem junge Männer suchen auf See ihr Glück. Der junge Herman Melville sticht im Januar 1841 mit der Acushnet in See. Als 1851 Melvilles Moby-Dick erscheint, ist der amerikanische Walfang auf dem Zenit. Atlantik und Pazifik sind erobert, allerdings werden die Fahrten immer länger und langweiliger – mittlerweile sind nach den Glattwalen auch die Pottwale kaum noch zu sehen.

Fortschritt hieß: Abschlachten

Es ist bei uns Menschen so, dass wir immer gern auf den Fortschritt hoffen, wenn die Dinge anfangen, ein bisschen aus dem Ruder zu laufen. Das war auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrunderts so. Der Bedarf nach Öl stieg und stieg und stieg, die Wale dagegen wurden immer weniger. Das war ein ziemliches Problem – und die Lösung hieß nun Edwin L. Drake.

Als Drake am 27. August 1859 auf einer Farm in Titusville, Pennsylvania, nach monatelangem Getüftel auf Erdöl stößt und damit den amerikanischen Öl-Boom auslöst, hätte der Walfang eigentlich enden können. Man wusste nun, wie sich dieser unendliche Durst nach Öl auch bequem an Land stillen lässt: mit Bohrtürmen. Aus Rohöl lässt sich alles herstellen, was man so braucht, Petroleum, Paraffin, Schmierstoffe, Lösungsmittel, man hat das eingehend untersucht, Rohöl ist die Zukunft, Walfang die Vergangenheit. Die Preise für Walöl sind im Keller.

Es ist beim Fortschritt allerdings so, dass er keinem Zweck dient, er schreitet einfach stur voran, und während er auf der einen Seite des Atlantiks für die Wale arbeitet, passiert auf der anderen Seite zeitgleich das genaue Gegenteil, und zwar in Gestalt des norwegischen Walfängers Svend Foyn. Während Drake in Titusville unbeirrbar an seinen Bohrtürmen schraubt, experimentiert Foyn in Tønsberg nämlich ebenso hartnäckig mit der Granatharpune. Er entwickelt eine Kanone, mit der jetzt endlich auch der ob seiner Größe und Schnelligkeit bislang stets unbehelligte Blauwal gejagt werden kann. Und er erfindet eine mechanische Winde, mit der man diesen bis zu zweihundert Tonnen schweren Riesen tatsächlich an Bord bekommt. Eine Revolution!

Mithilfe des Dampfantriebs werden aus altehrwürdigen Segelschiffen plötzlich stampfende Ozeanriesen, niemand braucht jetzt noch Wind, die unbezwingbare und endlose See ist nun ebenso Geschichte wie der ehemals Wilde Westen. Gleichzeitig entstehen neue chemische Verfahren, man kann aus Walspeck jetzt nicht nur Margarine machen, sondern auch Farben, Dünger und Tierfutter. Mit einem Mal ist es vollkommen egal, dass Drake auf Erdöl gestoßen ist. Man verwendet den Wal jetzt nicht mehr zur Beleuchtung von Städten – sondern für alles andere.

So ist es oft mit dem Fortschritt, und es schadet nicht, sich das immer wieder mal ins Gedächtnis zu rufen: Mehrere Entwicklungen, die ursprünglich wenig miteinander zu tun haben, lassen sich plötzlich in ungeahnter Weise kombinieren, die Möglichkeiten vervielfachen sich, und ehe man sichs versieht, ist eine neue gefräßige Industrie entstanden.

Es ist der Fortschritt, der die weitere Jagd überhaupt erst möglich macht, dank des Fortschritts geht es jetzt erst so richtig los. Jetzt geht es dem Blauwal an den Kragen – das gewaltigste Tier, das je gelebt hat, wird zum Billigprodukt. Spätestens mit der Industrialisierung ist der Walfang kein ehrbares, würdevolles Handwerk mehr, kein romantisches, heldenhaftes Abenteuer – der Walfang wird jetzt endgültig zu einer jegliche Moral, jedes Gewissen und alle Menschlichkeit verachtenden Angelegenheit. Es ist ein einziger Exzess.

Man jagt im Südpolarmeer, die führende Nation heißt jetzt Norwegen, davon ab bleibt alles beim Alten – man konzentriert sich auf eine Spezies, zieht von Küste zu Küste, schießt alles kurz und klein, und sobald man nichts mehr zum Erschießen findet, geht man zur nächsten Spezies über. Die technischen Möglichkeiten entwickeln sich exponentiell – die Wale jedoch vermehren sich im gleichen Tempo wie eh und je.

Man hat Fabrikschiffe und eine ganze Flotte von Fangbooten, jedes einzelne von ihnen weit größer als die längsten Walfänger der früheren Jahrhunderte. Es sind umgebaute Supertanker, man hat Radar an Bord und Unterstützung aus der Luft – man zieht jetzt richtig in den Krieg.

Und man ist gründlich. Die Gebiete werden sauber kartiert und sorgfältig durchpflügt. Tote Wale werden mit Kompressoren aufgepumpt, damit sie nicht sinken, während man sich um den Rest der Gruppe kümmert. Am Heck der Schiffe befinden sich riesige Rampen, über die die Wale mit einer gigantischen Klaue an Deck gezogen werden. Dort braucht man nicht mal mehr eine Viertelstunde, um sie zu zerstückeln, in Hochdruckkochern aufzulösen und in Kühlhäuser zu verfrachten.

Zu Zeiten des „Yankee Whaling“ hatten die Wale immerhin noch eine Chance. Mensch gegen Wal, das war ein offener Kampf, alles war möglich, und meist gewann tatsächlich der Wal. Jetzt allerdings wird nur noch geerntet. Keine andere Spezies wird jemals so gründlich verfolgt, der Walfang wird zum Monster, er ist eine nimmersatte und seelenlose Vernichtungsmaschine.

Nicht nur die Wale leiden. Rund um die Walfangstationen wirft man Pinguine ins Feuer, lebendig, sie sind ein angenehm zutraulicher Brennstoff, und es sind ja genügend da. Bislang waren diese Tiere höchstens mal ein paar schrulligen Polarforschern begegnet, und die waren meist ganz freundlich. Interessiert und unbekümmert watscheln sie nun in ihr Verderben. Beim Walfang ist irgendwann einfach alles egal.

Im Ersten Weltkrieg wird der Wal auch noch kriegswichtig, man braucht ihn jetzt zum Bombenbauen, aus Walspeck lässt sich Glycerin gewinnen, der wichtigste Grundstoff für Nitroglycerin, ab jetzt sprengt sich der Wal also selbst in die Luft. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs muss der Wal ausgehungerte Völker ernähren, mit gewaltigen Flotten pulverisieren Japan und die Sowjetunion bis weit in die Siebziger hinein alle Rekorde. Schon die offiziellen Zahlen sind atemberaubend, später stellt sich heraus, dass selbst sie noch frisiert sind, die Wahrheit ist noch viel, viel schlimmer.

Im modernen Walfang wird nicht ein einziges Mal erwogen, eine neue Waffe NICHT gegen den Wal einzusetzen. Bei allen Überlegungen und Berechnungen entscheidet man stets zu seinen Ungunsten, man lässt ihm nicht mal eine theoretische Chance.

Als die Wale immer seltener werden, versucht die Branche, sich selbst zu regulieren, mit Quoten, Verboten und Schutzzonen – und natürlich scheitert man kolossal: Wann hatte man sich je zuvor mal mäßigen können? Als man Quoten festlegt, fantasiert man sich die passenden Bestände herbei; als man Arten unter Schutz stellt, erfindet man unbekannte Unterarten; als man Fangzeiten halbiert, schickt man in der übrigen Zeit mehr Schiffe; und als man Schutzzonen einrichtet, nimmt man Gebiete, in denen es längst keine Wale mehr gibt. So geht das immer weiter, die ganze Zeit, man bastelt sich die Welt zurecht und hofft, dass man damit durchkommt. Es hat schon damals nicht funktioniert.

Ein Mann gegen einen Wal – ist das romantisch? (Hier: 1973 in Japan)

Foto: Asahi Shimbu/Getty Images

Der dringend benötigte Anstoß kommt schließlich von außen, durch eine, ja, wirklich: Konferenz! 1972 fordern die Vereinten Nationen in Stockholm ein Verbot des kommerziellen Walfangs – und tatsächlich beschließt die Internationale Walfangkommission einige Zeit später und mit äußerst knapper Mehrheit ein weltweites Moratorium. Es betrifft sämtliche Großwale und tritt 1986 in Kraft. Es ist nicht so, dass damit nun alle Probleme gelöst sind – Norwegen und Island erkennen das Verbot bis heute nicht an, auch Japan schert irgendwann aus. Ansonsten aber hält der Pakt, zum ersten Mal seit über Tausend Jahren erhalten die Wale eine Verschnaufpause.

Das Moratorium wird heute gern etwas verklärt – als hell leuchtendes Beispiel, dass der Mensch sich eben doch ändern kann, wenn er nur endlich versteht, dass es jetzt wirklich sein muss. Solche Beispiele sind rar, und wahrscheinlich wurden sie niemals dringender benötigt als heute. Allerdings endet der Walfang nicht, weil die Industrie plötzlich ihr Gewissen entdeckt. Und auch nicht, weil der Fortschritt alles besser macht. Der Walfang endet, weil es nicht mehr ausreichend Wale gibt, um mit ihnen Geld zu verdienen – und, vor allem: weil die Menschen beginnen, sich für die Wale zu interessieren und aktiv für sie einzusetzen.

Die Entdeckung der Intelligenz

Als die jungen Aktivisten Bob Hunter und Paul Watson 1975 hundert Kilometer vor der Küste Kaliforniens ein Schlauchboot direkt ins Schussfeld eines sowjetischen Walfängers manövrieren, um eine Herde Pottwale vor der Harpune zu schützen, ist das nicht nur die Geburtsstunde von Greenpeace, sondern auch der Urknall für die Ökobewegung. Dass Menschen ihr Leben riskieren, um die Natur zu schützen, das ist neu, aufregend und inspirierend. Mit dem aufkommenden Interesse am Wal entstehen plötzlich Nähe, Verständnis und Mitgefühl, und mit den spektakulären Aktionen dieser wagemutigen jungen Menschen gibt es nebenbei auch noch echte Helden und große Geschichten. Neben den Gesängen der Buckelwale interessieren sich die Menschen plötzlich auch für das Leben von Pottwalen, Blauwalen, Orcas und Delfinen – Wale sind jetzt kein Rohstoff mehr, sondern intelligente und fühlende Wesen, die es zu schützen gilt. Dieser Wandel kommt schnell, fast über Nacht, Walschutz wird zu einem Teil der Popkultur, überall in der westlichen Welt; die Aufkleber mit dem Slogan „Save the Whales“ sind allgegenwärtig, auch in Deutschland, wer „Atomkraft? Nein Danke!“ sagt, ruft selbstverständlich auch „Rettet die Wale!“. Innerhalb weniger Jahre werden die Wale zu überlebensgroßen Ikonen, und sie stehen nicht nur für den Schutz der Meere, der Umwelt und des Planeten – sie werden zu einem weltweiten Symbol für eine bessere und gerechtere Zukunft.

Zwei Männer gegen ein Walfang-Schiff: Ist das romantisch? (Hier: B. Hunter und P. Watson 1975)

Foto: Rex Weyler/Greenpeace

Der Walfang mag uns heute wahnsinnig weit weg erscheinen, und viel zu oft wird er als romantisches Abenteuer verklärt. Dabei ist er eines der eindrücklichsten Beispiele überhaupt für unseren Umgang mit der Welt – im Guten wie im Schlechten. Denn so fürchterlich und niederschmetternd dieses finstere Kapitel auch war, es lässt sich ja durchaus auch Hoffnung darin finden. Über Generationen hinweg war der Wal eine zentrale und unverzichtbare Ressource der Weltwirtschaft, nichts ging ohne ihn, nirgendwo, in keinem Bereich des Alltags, auf dem Rücken des Wals wurden Industrien aufgebaut und Nationen begründet – und trotzdem ist es innerhalb weniger Jahrzehnte gelungen, sich vom Wal als Ressource komplett zu verabschieden und dabei die halbe Weltwirtschaft umzustrukturieren.

Niemals zuvor in der Geschichte wurde eine so vollständige und radikale Umkehr in der Nutzung eines natürlichen Rohstoffs vollzogen.

Es ist heute durchaus hilfreich, sich daran zu erinnern, dass so etwas wirklich möglich ist. Und was es dafür vor allem brauchte, waren Menschen, die anfingen, sich zu interessieren und einzusetzen. Das Ende des industriellen Walfangs war ein epochaler Wandel, ja, im Rückblick aber kam er fast schon über Nacht. Und obwohl die Menschheit wirklich alles, was sie hatte, gegen den Wal ins Feld geworfen hat, haben sich die meisten Bestände bis heute doch merklich erholt. Auch das eine Nachricht, die sich heutzutage doch ganz gut brauchen lässt.

Warum die Buckelwale überhaupt singen, ist trotz jahrzehntelanger enthusiastischer Buckelwalgesangsforschung übrigens noch immer ziemlich unklar. Vermutlich singen nur die Bullen, es ist wahrscheinlich, dass ihre Lieder etwas mit der Partnersuche zu tun haben. Vielleicht geht es den Bullen darum, Konkurrenten zu beeindrucken. Je länger ein Wal singen kann, desto länger muss er die Luft anhalten können und desto größer, gesünder und attraktiver muss er also sein. Mit dem Aufgreifen der Lieder versucht der Wal vielleicht, möglichst wenig Risiko einzugehen – ein Lied, das alle singen, wird schon gut sein und Erfolg bringen. Mit der Weiterentwicklung wiederum bringt er seine eigene persönliche Note ein, die ihm einen Vorteil verschaffen soll.

Das ist auch bei uns Menschen eine gängige und beliebte Kulturtechnik – in der Popmusik nennen wir sie Sample, im Internet hat sie als Meme eine Weltkarriere hingelegt. Indem wir Samples und Memes verwenden, zeigen wir einerseits, dass wir komplett Bescheid wissen und immer auf der Höhe der Zeit sind, andererseits, dass wir irre kreativ und einzigartig sind.

Die Gesänge der Buckelwale gehören heute zu den wichtigsten Beweisstücken in der Verhandlung darüber, ob auch andere Spezies über Bewusstsein, Intelligenz oder Kultur verfügen – Eigenschaften also, die wir Menschen bislang immer ganz gern für uns allein gehabt haben. Zumindest hier auf der Erde. Im Rahmen des Voyager-Projektes gelangen die Lieder der Buckelwale 1970 bis ins All. Zusammen mit typischen Erdengeräuschen und Grußworten in verschiedenen Sprachen presst die NASA auch die Lieder der Buckelwale auf ihre sorgfältig kuratierte „Golden Record“. Die Motivation des Programms war, die menschliche Isolation im All zu beenden und endlich Kontakt zu einer anderen intelligenten Lebensform aufzunehmen. Die Suche dauert noch an, gefunden wurde bislang nichts, beide Sonden können aber um die vierzigtausend Jahre im All bleiben, es besteht also Hoffnung.

Womöglich suchen wir allerdings am falschen Ort – nichts gegen den Weltraum, aber die Erde täte es vermutlich schon auch.

Oliver Dirr ist Autor des Buchs Walfahrt. Über den Wal, die Welt und das Staunen, erschienen 2022 im Ullstein Verlag

Lesen Sie mehr in der aktuellen Ausgabe des Freitag.