Flugchaos in Indien: Wie eine Billigairline dies größte Volk jener Welt lahmlegt

Als Indigo vor ein paar Monaten seinen Aufstieg zu Indiens größter Fluglinie in nicht mal 20 Jahren feierte, beschrieb es seine Geschichte als deckungsgleich mit der des bevölkerungsreichsten Landes der Welt. Das Wiedersehen mit der Familie, das wegen der riesigen Entfernungen im Vergleich zu Deutschland neunmal so großen Subkontinent einst Monate gedauert habe, sei heute nur einen Flug entfernt. Als Indien angefangen habe, am Boden Smart Citys, Autobahnen und Milliarden-Start-ups zu bauen, habe Indigo dafür gesorgt, dass der Himmel nicht auf der Strecke geblieben sei. „Als die Nation begann, emporzufliegen, war Indigo der Wind unter ihren Flügeln“, tönt das Unternehmen.

Auf fast zwei Drittel Marktanteil kommt die Airline im innerländischen Flugbetrieb. Auf vielen Strecken ist das ein Quasi-Monopol. Und, wie man nun weiß: Eine Katastrophe für eine Nation, der Indigo mit Beginn des zweiten Dezembers die Flügel nicht nur gestutzt, sondern regelrecht abgehackt hat.

Von 92 auf 35 Prozent Pünktlichkeit gefallen

An diesem Dienstag vor einer Woche rutschte die Pünktlichkeitsrate von Indigo auf 35 Prozent ab. Allein das ist schon bemerkenswert, hat die Airline ihren Aufstieg vor allem dem Versprechen „On time, every time“ (Immer pünktlich) zu verdanken, das ihr eine Pünktlichkeitsrate von 92 Prozent noch vor vier Jahren einbrachte. Seitdem geht es allerdings bergab. Vergangenes Jahr lag die Rate noch bei 71 Prozent. Nachdem am zweiten Dezember Dutzende Indigo-Flüge ausgefallen waren, rutschte sie am Tag darauf auf unter 20 Prozent ab. Die Zahl der stornierten Flüge an großen Flughäfen wie der Hauptstadt Delhi und den Wirtschaftszentren Mumbai und Hyderabad wuchs auf rund 200. Einen Tag später fielen schon 550 Flüge aus, davon allein 73 am neu gebauten Flughafen des IT-Zentrums Bangalore, das mittlerweile Bengaluru heißt. Dann kam der fünfte Dezember: Mit geschätzt 1600 Ausfällen blieb jeder zweite Indigo-Flug im Land am Boden.

An den Flughäfen brach Chaos aus. Viele Reisende erfuhren erst am Check-in, dass ihr Flug gestrichen war, während die Indigo-App auf dem Smartphone immer noch suggerierte, dass alles in Ordnung sei. Kilometerlange Warteschlangen bildeten sich vor überfordertem Bodenpersonal. Familien, die auf dem Weg von einer Hochzeit nachhause waren, Geschäftsleute auf dem Weg zu Terminen im Ausland, und die im Indigo-Werbespot zitierte Mutter, die zum ersten Mal in ihrem Leben ihr Heimatdorf verließ, um den Sohn am anderen Ende des Landes zu besuchen: Alle saßen fest. Weil die Airline keine Hotels organisierte, blieb den Gestrandeten meist nichts anderes übrig, als im Flughafen zu schlafen, manchmal tage- und nächtelang.

Am sechsten Dezember sank die Zahl der Flugausfälle auf 800, in den Folgetagen auf rund 650. Doch allein in Bangalore hoben immer noch 124 Indigo-Maschinen nicht wie geplant ab. In Mumbai wurden über 100 Indigo-Flüge storniert, rund 90 in Delhi. Dass das größte Chaos im Land vorüber zu sein scheint, vermag die Nation kaum zu trösten. Unter den 1,4 Milliarden Indern herrscht Aufruhr.

Ruhezeiten von Piloten nicht der wahre Grund für Kollaps?

Als der Nachrichtensender News 18 am gestrigen Montag seine Sondersendung zum Indigo-Desaster eröffnete, malte er nicht das Bild eines Landes, das in 20 Jahren Industrienation sein will, sondern das einer Bananenrepublik. „Überfüllte Terminals, Schlachtrufe wütender Passagiere, nonstop blinkende Anzeigetafeln mit stornierten Flügen, auf Koffern liegende Kinder, auf dem Boden schlafende Alte – das ist Indiens Flugverkehrssystem des Jahres 2025.“ Ein System, das „in die Knie gezwungen worden“ sei „nicht vom Wetter, nicht vom Krieg, nicht von Naturkatastrophen, sondern vom Kollaps einer einzigen Airline“. Das ganze Land frage sich: Wie habe Indigo-Führung, Luftfahrtregulator und Regierung zulassen können, dass „diese Krise in Zeitlupe explodiert“?

Diese Frage stellen sich seitdem Luftfahrtexperten überall auf der Welt. Der unmittelbare Auslöser, so wirkt es Stand heute, waren offensichtlich schärfere staatliche Vorgaben für die Ruhezeiten von Piloten, auf die sich die Airline nicht rechtzeitig eingestellt hat. Doch bereits jetzt meldet sich Indigo-Personal zu Wort, dass die tieferen Ursachen für den totalen Zusammenbruch in jener „Effizienz“ sieht, für die Indigo in den vergangenen Jahren so oft gelobt wurde und die den Aktienkurs des Unternehmens in den vergangenen fünf Jahren um 240 Prozent in die Höhe getrieben hat: Massenentlassungen, Einstellungsstopps, Nullrunden bei Gehalt und mit Konkurrenten vereinbarte Abwerbeverbote, eine kuriose Spezialität der indischen Arbeitswelt.

Den Fluggesellschaften fehlt Personal

Im vergangenen Jahr hatte Indiens Regierung entschieden, den Piloten im Land mehr Schlaf zu gönnen, der Sicherheit im Flugverkehr zuliebe. Schließlich geben zwei von drei indischen Piloten in Umfragen an, schon mal im Cockpit weggedöst zu sein, ohne die anderen Crew-Mitglieder darüber informiert zu haben. Als 2010 die Boeing 737 des Air India-Flugs 812 auf dem Weg von Dubai beim Landen in Magalore an der indischen Westküste verunglückte und 158 Menschen starben, zeigte der Voice Recorder, dass der Flugkapitän vom zwei Stunden dauernden Flug offensichtlich eine Stunde und vierzig Minuten lang geschlafen hatte.

Nach den neuen Regeln, die sich den internationalen Standards anpassen sollen, müssen sich die Piloten in Indien nun 48 Stunden in der Woche ununterbrochen lang ausruhen, zuvor waren es 36 Stunden gewesen. In der Nacht, die fortan per Definition erst um sechs Uhr, statt fünf Uhr morgens endet, dürfen die Piloten in der Woche nur noch zweimal statt sechsmal landen und maximal acht Stunden in der Luft sein.

Es ist offensichtlich, dass die Airlines mehr Personal für die neuen Regeln brauchen. Allerdings wurden diese bereits in einer ersten Etappe im Juli eingeführt, in einer zweiten dann Anfang November. Die neuen Bestimmungen wurden bereits vor einem Jahr verkündet. Dass die Ruheregeln verschärft werden, ist sogar seit zwei Jahren klar. Wieder und wieder habe man wie andere Fluggesellschaften natürlich auch Indigo gedrängt, sich auf die neue Situation einzustellen, sagt die indische Luftfahrtaufsicht DGCA. Umso schockierender war die Entschuldigung des niederländischen Indigo-Vorstandschefs Pieter Elbers vom vergangenen Freitag, der einräumte, man habe die Anforderungen an die Crews infolge der Ruheregeln „falsch eingeschätzt“ und nach Ausbruch des Chaos „vergebliche“ Bemühungen unternommen, den Betrieb einigermaßen aufrechtzuerhalten. Man werde „alle Systeme neu starten“ – Worte, wie Indiens Medien ätzten, die man „niemals von einem Unternehmen hören will, das 2300 Flüge am Tag durchführt“.

„Die ganze Welt lacht über uns“

2422 Flugkapitäne habe Indigo für den Betrieb unter den neuen Ruheregeln benötigt, heißt es jetzt – 2357 habe das Unternehmen tatsächlich gehabt. Auch Erste Offiziere habe es zu wenig gegeben. Das Ganze sei nichts anderes als ein „völliges Führungsversagen“ der Airline, sagt Charanvir Randhawa, Präsident der Vereinigung Indischer Piloten. Der Gewerkschafter, selbst Flugkapitän, fragt, warum das Unternehmen sich nicht mit Ausländern beholfen habe, um die Lücke von 65 Piloten zu füllen – und erhebt einen ungeheuerlichen Verdacht: Indigo habe die Katastrophe bewusst „geplant“ und sei ein Fall für die Strafverfolgungsbehörden.

Was sich verrückt anhört, stimmt nachdenklich angesichts der Entscheidung der indischen Luftfahrtaufsicht, zur Lösung der Krise die gerade erst verschärften Ruheregeln schon wieder auszusetzen – aber nur für Indigo, nicht für andere Airlines. So etwas habe er noch nie erlebt, sagt Pilotengewerkschafter Randhawa: „Die ganze Welt lacht über uns.“

Indiens Regierung verteilt Indigo-Flüge auf andere Airlines

Indigo hat derweil angekündigt, dass es wohl noch Tage dauern wird, bis der Flugverkehr wieder ohne Massenausfälle in den Normalbetrieb zurückkehren kann. In der Frist, die es von der Regierung gesetzt bekommen hat, sei es „realistisch nicht möglich, die genauen Ursachen für die Krise festzustellen“. Seit deren Beginn ist der Aktienpreis des Unternehmens um 13 Prozent gefallen, was nicht das Ende der Talfahrt darstellen dürfe.

Schließlich plant die Regierung Berichten zufolge, fünf Prozent der täglichen Indigo-Flüge zu streichen und anderen Fluggesellschaften zuzusprechen. Eine Kürzung um weitere fünf Prozent könne dann wenig später folgen, was die Einnahmen Indigos ordentlich senken wird. Wenn die Airline denn nicht ohnehin zerschlagen wird. Neu-Delhi hat eine Untersuchungskommission eingesetzt. Es wird erwartet, dass Airline-CEO Elbers bald vorgeladen wird.

Doch auch das dürfte den Rufschaden, den Indiens Luftfahrt durch die Krise erlitten hat, so schnell nicht lindern. Dass die weltgrößte Bevölkerung von gerade mal zwei Airlines abhängig sei – neben Indigo hat die staatliche Air India einen Anteil von 26,5 Prozent am Markt – sei ein gewaltiges Risiko, was jederzeit wieder in Chaos umschlagen könne, warnen Fachleute. Angesichts des schnellen Wachstums der indischen Wirtschaft, das im laufenden Jahr mit über acht Prozent so hoch ausfällt wie in keiner anderen großen Nation auf der Welt, brauche das Land mindestens fünf große Fluggesellschaften, hat Luftfahrtminister K Rammohan Naidu am Montag vor dem Parlament gesagt.

Bis es dazu kommt, wird wohl jedoch noch einige Zeit ins Land gehen. In der Zwischenzeit haben Millionen Inder ein ganz anderes Problem zu lösen: Ihr Gepäck wiederzufinden, das sie an den Flughäfen aufgegeben hatten und seitdem verschwunden ist. Am Sonntag teilte die indische Regierung mit, sie habe Indigo angewiesen, jeden einzelnen Koffer innerhalb von 48 Stunden seinem Besitzer zuzustellen. Ganz offensichtlich ist der Befehl leichter ausgesprochen als umgesetzt. Bis zum Wochenende hatte die Airline nach eigenen Angaben im ganzen Land gerade mal 3000 der verlorenen Gepäckstücke zugestellt – also ungefähr jedes Dritte.